Wir brauchen eine europäische Bürgerkunde

Jean-Clauder Juncker : Wer nicht zur Wahl geht, öffnet Zufallsmehrheiten Tür und Tor

Europa hat gewählt. Am 7. Juni fand die weltweit zweitgrößte Parlamentswahl statt. Nach dem indischen ist das europäische Wahlvolk das mit Abstand größte. Dass die Europäer sich für diese Wahlen nicht echauffierten – die Beteiligung war mehr als lamentabel -, ist höchst enttäuschend, überrascht aber nicht. Valery Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt haben 1979 mit großem Einsatz die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament durchgesetzt. Sie taten dies aus der Überzeugung heraus, die transnationale Direktwahl durch alle stimmberechtigten Bürger der damaligen Europäischen Gemeinschaft würde den – auch damals schon intensiv beklagten – tiefen Graben zwischen der Brüsseler Politik und den europäischen Bürgern schließen helfen. Jetzt, nach der siebten Direktwahl, gilt es, ganz nüchtern festzuhalten, dass sich die Kluft zwischen Institutionen und Bürgern der EU eher verbreitert als verringert hat.

Die Ursachen für die Wahlenthaltung sind vielschichtig. Die vor allem von der Publizistik herumgereichte Globalerklärung, die Politiker seien an dem Demokratiedesaster schuld, stimmt zum großen Teil. Aber es stimmt auch, dass die europäischen Bürger sich selbst an die Nase fassen müssten. Wer nicht zur Wahl geht, verzichtet auf gestaltende Mitwirkungsmöglichkeiten und öffnet Zufallsmehrheiten Tür und Tor. Wer nicht an der Wahl zum EU-Parlament teilnimmt, der verabschiedet sich nolens volens von einem Grundanliegen der Kriegsgeneration: dem Fortbestand und der Festigung der Demokratie in Europa. 

Die NichtWähler verdienen keinerlei Lob. Sie verdienen eher eine Maßregelung dafür, dass sie ihrer europäischen Bürgerpflicht nicht nachgekommen sind. Das Gezeter über inadäquate Europapolitik ist in Teilen nachvollziehbar. Doch Unzulänglichkeiten beseitigt man nicht durch Wegsehen und Wahlenthaltung. Man beseitigt sie durch Hinsehen und Wählen. Sonst kommt der Tag, dass am Abend einer Europawahl das europäische Parlament sich mehrheitlich aus EU-Gegnern, -Skeptikern, -Verleugnern und stupiden Nationalisten zusammensetzt. Das Resultat wäre ein auseinanderstrebendes Europa. Eines, das nach innen erlahmt und nach außen mit stumpfen Waffen kämpft. Eines, das versagt, weil es nichts mehr zu sagen hat. Daran sollten die wahlfaulen und politiklustlosen Europäer vor der nächsten Europawahl im Jahre 2014 denken. Sie sollten sich vornehmen, selbst Politik zu machen, statt Politik mit sich machen zu lassen. Doch es wäre frivol und uneinsichtig, den EU-Bürgern die exklusive Schuld an der mangelhaften Wahlbeteiligung zuzuschreiben. Selbstverständlich tragen Regierungen und nationale Parlamente ein gerüttelt Maß an Schuld. 

Seit dem Maastrichter Vertrag – seit 1992/1993 also – sind die Zuständigkeiten und Kompetenzen des Europäischen Parlamentes an Zahl und Intensität kontinuierlich gewachsen. Früher hat es Entschließungen zuhauf verabschiedet und fromme Wünsche an die Regierungen gerichtet. Es war ein parlamentarisches Sprachrohr ohne den geringsten Einfluss. Heute ist es prädominanter Gesetzesgeber in der EU, verfügt über erhebliche Mitentscheidungsrechte im legislativen Verfahren, sorgt für Sonne und Regen in essenziellen Machtlatifundien. Keine Regierung kann es sich erlauben, auf eigene Rechnung in Europa zu agieren. Alle Rechnungen werden mit dem parlamentarischen Wirt gemacht. 

Das Europäische Parlament verfügt über eine Machtfülle, die der der nationalen Parlamente durchaus entspricht, ja sie sogar manchmal übersteigt. Das wissen die Regierungen – und auch die nationalen und regionalen Parlamente. Aber allzu oft tun die nationalen Entscheidungsträger so, als gebe es die normative Kraft des Europäischen Parlamentes nicht. Sie tun immer noch so, als fielen alle wichtigen Entscheidungen in Berlin, in Paris, in London oder in Riga. 

Weil die nationalen öffentlichen Meinungen ihr Ohr vornehmlich in Richtung innenpolitischer Entscheidungsforen recken und von dorther der Brüsseler und Straßburger Einfluss kaschiert wird, darf nicht übermäßig verwundern, dass viele EU-Bürger den realen Einfluss und die vertraglich festgelegten Endzuständigkeiten des Europäischen Parlamentes schlichtweg ignorieren. Weil viele Staats- und Regierungschefs so tun, als wären sie die alleinigen Herren des europäischen Geschehens und als wären nur ihre Tagungen maßgebend, entsteht in allen europäischen Ländern der bewusst gezüchtete Eindruck, das Europäische Parlament wäre nichts anderes als ein paraparlamentarisches Dekorum. 

Deshalb ist es dringend angebracht, die Bürger der Europäischen Union im Detail über die Macht- und Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlamentes zu unterrichten. Deshalb wäre es wünschenswert, der Berichterstattung über die alle EU-Länder bindenden Gesetzesentscheidungen des Europäischen Parlamentes eine ähnliche Bedeutung einzuräumen wie den nationalen Parlamentsentscheidungen. Wir brauchen eine ernsthaft zu betreibende europäische Bürgerkunde! Deshalb ist es dringend angebracht, die Bürger der Europäischen Union im Detail über die Macht- und Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlamentes zu unterrichten. Deshalb wäre es wünschenswert, der Berichterstattung über die alle EU-Länder bindenden Gesetzesentscheidungen des Europäischen Parlamentes eine ähnliche Bedeutung einzuräumen wie den nationalen Parlamentsentscheidungen. Wir brauchen eine ernsthaft zu betreibende europäische Bürgerkunde!

VON JEAN-CLAUDE JUNCKER

Quelle: Rheinischer Merkur, 2. Juli 2009