„Ich fürchte eine soziale Krise”

Der luxemburgische Premierminister Juncker über die Folgen der Rezession für die Europäische Union. Jean-Claude Juncker im Gespräch mit “Die Welt”

DIE WELT: Herr Juncker, was macht Ihnen in der Wirtschaftskrise am meisten Angst? 

Jean-Claude Juncker: Ich fürchte, dass es nach der Finanz- und Wirtschaftskrise in Kürze eine soziale Krise geben wird, die vor allem durch Massenarbeitslosigkeit geprägt sein wird und Einkommensverluste für viele Menschen bedeutet. Dies kann dazu führen, dass das Vertrauen in das politische System deutlich zurückgeht. Daraus könnte ein explosives Gemisch mit dramatischen Folgen für Europa entstehen. 

Was wollen Sie dagegen tun? 

Juncker: Es ist dringend erforderlich, in den kommenden Monaten mehr Geld in die Finanzierung von Kurzarbeit und Umschulungen zu stecken. Man sollte die Krise nutzen, um die Beschäftigten besser zu qualifizieren. Das wird sich nachher auszahlen. 

Die USA haben 5,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Konjunkturprogramme gesteckt, die Europäische Union nur 3,5 Prozent. Müssen die Europäer nachlegen? 

Juncker: Wenn mir jemand vor Jahresende gesagt hätte, dass wir soviel Geld zur Bekämpfung der Krise ausgeben werden, hätte ich gesagt: Das ist völlig unrealistisch. Aber wir haben es getan, wir sind uns des Ernstes der Lage bewusst. Aber jetzt müssen wir die Programme wirken lassen, wir brauchen jetzt keine neuen Konjunkturpakete. Wir sollten bis Ende 2010 warten und schauen, ob die Konjunkturspritzen bis dahin gewirkt haben. In frühestens 18 Monaten sollten wir dann entscheiden, ob neue Konjunkturspritzen notwendig sind. 

Bis dahin kann sich die Krise aber dramatisch verschlimmert haben. 

Juncker: Warten Sie es doch ab. Es macht keinen Sinn, nutzlos Geld auszugeben…. 

….und immer höhere Schulden zu machen. 

Juncker: Das ist doch das Problem. Wer Schulden macht, braucht auch eine klare Strategie zum Schuldenabbau. 

Haben Sie denn eine Strategie? 

Juncker: Wir werden uns in nächsten Monaten über die Eckpunkte einer Exit-Strategie unterhalten. Aber wir müssen aufpassen, dass wir in den kommenden zwei Jahren nicht durch übermäßiges Sparen die aufkeimende Konjunktur sofort wieder zum Einsturz bringen. Ich erwarte, dass die europäische Wirtschaft erst 2011 wieder wachsen wird. Eine Rückkehr auf den Pfad der Haushaltskonsolidierung vor 2011 scheint mir darum unrealistisch zu sein. 

Wir haben den Eindruck, dass der Stabilitätspakt derzeit nicht mehr viel wert ist. 

Juncker: Übertreiben Sie bitte nicht! Der Pakt ist 2005 so reformiert worden, dass wir flexibel auf Krisensituationen reagieren können. Das ist notwendig. 

Aber das französische Haushaltsdefizit wäre 2008 auch ohne Krise über drei Prozent geklettert. Wird Paris jemals dafür bestraft werden? 

Juncker: Warten Sie doch ab. Die EU-Kommission wird ein Defizitverfahren gegen Frankreich einleiten. Dabei wird man sehr sorgfältig unterscheiden, welche Teile des Defizits hausgemacht sind und welche der Krise geschuldet sind. Das wird für viele eine spannende Lektüre werden. 

In diesen Tagen ist viel von europäischer Solidarität die Rede. Werden die Mitglieder der Euro-Gruppe einem Land der Eurozone helfen, wenn es in Zahlungsschwierigkeiten gerät? 

Juncker: Es wird kein Land der Eurogruppe zahlungsunfähig werden. Falls dies doch passierte – und das ist eine rein theoretische Debatte wird die Eurogruppe eine adäquate Antwort finden. 

Wie lautet sie? 

Juncker: Wir werden eine Antwort finden. 

Im Krisentopf für die osteuropäischen Staaten in Not sind 25 Milliarden Euro. Das wird niemals ausreichen. Wird Brüssel drauflegen? 

Juncker: Entscheidend ist im Moment doch vielmehr: Bevor die betroffenen Länder europäische Solidarität einfordern, müssen sie glaubhaft darstellen, dass sie wirklich alles zur Konsolidierung ihrer Haushalte unternommen haben. Kostenlose Unterstützungsprogramme kann es nicht geben, die EU ist kein Wohlfahrtsverein. 

Viele Osteuropäer, wie Polen und Bulgarien, drängen jetzt auf einen beschleunigten Beitritt zur Euro-Zone

Juncker: Ich habe Verständnis dafür, dass ein Land, das alle Kriterien erfüllt, nicht wie vorgeschrieben zwei Jahre im Wartesaal des EWS II sitzen will. Man kann sich dieser Debatte nicht verschließen. Aber die Finanzminister der Eurozone haben das bei ihrem letzten Treffen abgelehnt. Vorläufig gibt es also keinen beschleunigten Beitritt. Die Mehrheit der EU-Staaten sitzt beim G2O-Treffen in London nicht am Tisch. 

Sehen Sie die Gefahr einer Spaltung? 

Juncker: Wichtig ist, dass die tschechische Ratspräsidentschaft und die EU-Kommission beim G-20-Gipfel eine Position vertritt, die die Meinung aller 27 Mitgliedstaaten widerspiegelt. 

Konkret? 

Juncker: Wenn die G-20-Gruppe beschließen würde, Mitgliedstaaten auf die schwarze Liste der sogenannten Steuerparadiese zu setzen, ohne dass diese Länder ausreichend konsultiert worden wären, dann hielte ich das für einen Vorgang, der den Zusammenhalt der Union ernsthaft in Gefahr bringt. 

Wie gesprächsbereit ist Luxemburg beim Bankgeheimnis? 

Juncker: Wir haben uns letzte Woche bereit erklärt, auf Anfrage Informationen nach OECD Standard auszutauschen. Die europäischen Rechtsnormen gelten sowieso im EU-Mitgliedsland Luxemburg. Kommentare aus Berlin und Paris, wir hätten dem Druck der Großen nachgegeben, waren übrigens nicht hilfreich. Man sollte mehr auf die Befindlichkeiten der kleineren Länder Acht geben. 

Wird Europa als zerfleddertes Huhn oder gestärkt aus der Krise hervorgehen? 

Juncker: Das werden wir bei der Autopsie feststellen. Wir müssen uns zusammenraufen, europäischen Geist zeigen und uns nicht in europäischen Alleingängen verlaufen. 

Quelle: Die Welt", 18. März 2009, Das Gespräch führten Stefanie Bolzen und Christoph B. Schiltz