Europäisches Glas ist halb voll

Hans-Gert Pöttering (EVP/CDU) ist neuer Präsident des Europäischen Parlaments. Würde des Menschen und Friedensfrage sind Antriebsfedern seiner politischen Arbeit.

P__ttering.jpgQuelle: D’Wort, 20. Januar 2007, Ady Richard

Internetseiten des Europaparlaments

Mit aller Kraft kämpft das EP-Gründungsmitglied für die EU-Verfassung. Weil so die Rolle des Parlaments gestärkt werde. Den Menschen bringe dies Fortschritte bei Sozialpolitik und Sicherheit. Das europäische Glas sei halb voll, nicht halb leer. Der erste Auslandsbesuch im neuen Amt führte den deutschen Europäer am Donnerstag nach Luxemburg.

Herr Präsident, die Würde des Menschen spielt in Ihrer politischen Arbeit eine zentrale Rolle. Sie haben sie heute bei Ihrem Antrittsbesuch in Luxemburg – Ihre erste Auslandsreise in Ihrem neuen Amt – auf kleine Nationen ausgeweitet. Wie wichtig ist diese Würde für den politischen Menschen Hans-Gert Pöttering?

Die Würde des Menschen ist der Kern unserer europäischen Überzeugungen. Sie ist, um ein Wort von Jacques Delors aufzugreifen, die “Seele Europas”. Angela Merkel hat als “Seele Europas” die Toleranz bezeichnet. Aber ich würde dies auf die menschliche Würde ausdehnen. Und daraus kann man politisches Verhalten und Handeln ableiten.

Können Sie politische Beispiele nennen?

Wenn man die Würde des Menschen ernst nimmt, muss man Massaker in Tschetschenien und autoritäre Entwicklungen in Russland kritisieren. Dann muss man – und das sage ich als Freund Amerikas -Guantänamo kritisieren. Wenn man die Würde des Menschen ernst nimmt, haben auch die Palästinenser das Recht in einem sicheren Staat in Würde zu leben. Und dieses Recht haben selbstverständlich auch die Israelis. Die Würde des Menschen ist der Maßstab für jegliches politisches Handeln.

Kann man die Erfolgsgeschichte Europas – wir feiern dieses Jahr 50 Jahre Römische Verträge – nach dem Zweiten Weltkrieg auch in diesem Lichte sehen?

Unbedingt! Weil unsere Vorstellung des Menschen einzigartig in der Welt ist. Darüber hinaus ist Europa eine unendlich große Erfolgsstory. Ich wünschte, dass die Bürgerinnen und Bürger dies sehr viel mehr erkennen würden.

An welche Erfolge denken Sie?

Wir haben den freien Binnenmarkt. Wir haben den Euro. Wir haben die Grenzen abgebaut. Wir haben zunehmend eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Unsere Wertegemeinschaft hat am Ende den Kommunismus zusammenbrechen lassen, so dass wir heute die Länder Mitteleuropas in der EU haben. Dies sollte uns den Mut und die Kraft geben, an unsere eigene Zukunft zu glauben. Ich sage dies aus politischer Erfahrung.

Die Friedensfrage bleibt die entscheidende Frage

Ihr Vater ist im Zweiten Weltkrieg gefallen: Wie wichtig bleibt die Friedensfrage als Begründung Europas für Sie ganz persönlich?

Die Friedensfrage bleibt die entscheidende Frage für unseren Kontinent. Dass es heute undenkbar ist, dass die Völker Europas gegeneinander Krieg führen, ist die eigentliche große Errungenschaft.

Aber bei tagesaktuellen Problemen fruchtet dieses Argument nicht mehr …

Dies reicht in der Tat nicht mehr aus. Es gibt neue Herausforderungen, etwa die Energieversorgung. Auch in der Globalisierung können wir nur bestehen, wenn wir nationale Wege gehen. Wir haben also nur eine Chance, unsere Werte und Interessen zu vertreten, wenn wir es gemeinsam tun. Dieses den Menschen zu vermitteln, ist eine große Herausforderung. Auch für die Medien …

Publizistisch ist Europa zumeist ein Europa der Staats- und Regierungschefs. Welche Impulse erwarten Sie als neuer EP-Präsident von den Regierungschefs?

Ich hoffe, dass die Erklärung von Berlin über die Zukunft Europas von Rat, Kommission und Parlament am 25. März zu 50 Jahren Römische Verträge Mut, Kraft, Zuversicht und Optimismus für unseren Kontinent vermittelt. Das europäische Glas ist halb voll!

Auch das der Verfassung?

Auch das der Verfassung! Es ist keine abstrakte Frage. Wir brauchen diese Verfassung, um im Ministerrat nach Mehrheit entscheiden zu können. Gerade bei Herausforderungen wie Immigration, Asyl oder innere und äußere Sicherheit, die auch für die Menschen wichtig sind. Wir brauchen hier Mehrheitsentscheidungen im Rat und Mitentscheidung im Parlament. Das sichert der Verfassungsvertrag. Des halb setzen wir uns mit aller Kraft dafür ein, dass dieser Wirklichkeit wird.

Wie wichtig ist Ihnen dabei das Etikett “Verfassung”?

Die Reformen und Werte müssen bewahrt werden. Aber wichtiger als die Bezeichnung ist der Inhalt!

Segolene Royal hat sich in Luxemburg – sollte sie gewählt werden auf ein neues Referendum für Frankreich festgelegt. Wie sehen Sie die Ratifizierungsfrage?

Jedes Land hat das Recht die Ratifizierung so vorzunehmen, wie es dem nationalen Recht entspricht. In diesen Diskussionsprozess möchte ich nicht eingreifen.

Europaparlament weist in vielen Fragen den Weg

Sie sind Gründungsmitglied des Europäischen Parlaments. Wie sehen Sie als heutiger Präsident dessen Rolle in der Zukunft?

Das Europäische Parlament hat sich von 1979 bis 2007 unglaublich positiv entwickelt. Es ist heute Gesetzgeber – mit dem Ministerrat – in nahezu 75 Prozent der europäischen Gesetzgebung. Mit dem Verfassungsvertrag wird dies anwachsen an annähernd 100 Prozent! Wir sind gleichberechtigte Haushaltsbehörde.

Haben Sie tagespolitische Beispiele für diese positive Entwicklung?

Wir weisen in vielen Fragen den Weg. Zum Beispiel bei der Dienstleistungsrichtlinie. Das Parlament hat hier unsere Wettbewerbsfähigkeit gestärkt und gleichzeitig die sozialen Standards der Menschen gewahrt. Beim Finanzrahmen 2007/ 2013 haben wir unsere Verantwortung wahrgenommen. Wir sind selbstbewusst geworden und werden unserer Verantwortung für die Völker Europas gerecht. Deshalb kämpfen wir – friedlich – für einen weiteren Machtzuwachs, wie ihn die Verfassung vorsieht. Aber wir wollen nicht mit dem Kopf durch die Wand. Ich werde dabei die Mehrheitsmeinung des Europäischen Parlaments vertreten.

Kann das Parlament ein Schlüssel sein, um aus der augenblicklichen Europakrise herauszukommen?

Das Parlament gibt den Menschen Orientierung. Und wir sind auch Meinungsbilder. Aber wir brauchen dafür die Medien. Insbesondere das Fernsehen.

Sind bereits Einladungen zu Talkshows eingegangen?

Ich war bereits in zwei Talkshows des ZDF. Ich warte darauf, dass andere diesem Beispiel folgen. Aber Banalitäten verkaufen sich manchmal besser als politische Substanz, die für die Völker Europas von großer Bedeutung ist. Ich werde aber mit Entschlossenheit, mit Kraft und großer Freude meine Aufgabe ausfüllen.

© Photo: Europaparlament