Für eine nachhaltigere Ursachenbekämpfung der Nahost-Konflikte, der IS-Bedrohung und der Flüchtlingsfrage

Europa hat gegenwärtig die größten Flüchtlingsbewegungen seit dem Zweiten Weltkrieg zu bewältigen. Zumindest einen Teil davon. Denn mehr als 80 Prozent aller Flüchtlinge bleiben im Nachbarland des jeweiligen Konfliktherds. Allen voran in den Nachbarländern Syriens. Der seit fünf Jahren tobende Bürgerkrieg in Syrien ist mit mehr als 250 000 Opfern der zentrale Auslöser für die Flucht aus dem östlichen Mittelmeerraum. Auch in die Europäische Union. Über neun Millionen Menschen haben Syrien bereits verlassen. Dies entspricht fast der Hälfte der Bevölkerung. Bislang hat die Politik sich vor allem mit der Behandlung der Symptome und sich eigentlich zu wenig mit den Ursachen der Flüchtlingskrise beschäftigt. Eine effiziente Flüchtlingspolitik besteht indes in erster Linie in einer Ursachenbekämpfung vor Ort in den Herkunftsländern. Aber es gibt Licht am Horizont. Die UN-Vollversammlung hat sich dieser Tage mit den Ursachen auseinandergesetzt. Und es gibt nun erste Schritte in die richtige Richtung.

Gescheiterte Nahostpolitik und westliche Waffenlieferungen

Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem Mittelmeerraum und dem Nahen Osten. Gerade hier ist eine rezente Ursache der Krise eine verfehlte westliche Außenpolitik. Allen voran der fehlgeschlagene Irakkrieg der USA sowie die planlose Begleitung des Arabischen Frühlings durch Europa. In beiden Fällen wurden Regime abgesetzt. Ohne langfristige Strategie. Ohne zu wissen, wer den Platz der abgesetzten Diktatoren einnehmen soll. Mit dem Resultat eines regionalen Chaos und einer Stärkung der Fundamentalisten. Ohne diese falsche Politik des Westens wäre der „Islamische Staat“ in seiner heutigen Stärke unvorstellbar. Als Beispiel sind hier die IS-Führungskräfte zu nennen, die bereits Offiziere in Saddams Streitkräften waren. Hinzu gesellt sich innerhalb der islamischen Welt ein Richtungsstreit zwischen Sunniten und Schiiten, der bereits Jahrhunderte andauert und heute in Stellvertreterkriegen zwischen Iran und Saudi-Arabien ausgefochten wird. Vor allem Riad betreibt dabei reinste Machtpolitik unter dem religiösen Deckmantel.

Vor diesem Hintergrund gehören auch die westlichen Waffenlieferungen in die Region auf den Prüfstand. Vor allem, aber nicht nur jene an Saudi-Arabien sowie in die restlichen Golfstaaten. Mit amerikanischen und europäischen Waffen ist Riad dabei, den Jemen in die Steinzeit zurückzubomben und damit schon den Nährboden für die nächste Flüchtlingswelle vorzubereiten. Sowohl die USA als auch die betroffenen EU-Staaten stehen hier als Waffenexporteure in einer besonderen Verantwortung. Sie müssen erkennen, dass Waffenlieferungen heute kritischer hinterfragt werden als noch im Kalten Krieg. In Zeiten nachhaltiger Ressourcenpolitik sollte die Maxime „Waffen gegen Erdöl“ definitiv der Vergangenheit angehören.

Westliches Verschlafen der Migrationskrise

Betrachtet man nun die desaströse humanitäre Lage in den Flüchtlingslagern in der Türkei, dem Libanon und Jordanien, zeigt sich, dass die Welt die Migrationskrise verschlafen hat und das Engagement vor Ort nicht ausreicht. Wenn Flüchtlinge nicht mehr genügend zu essen und trinken haben, weil dem UN-Flüchtlingshilfswerk die Mittel ausgehen, muss man sich Fragen über die Solidarität der internationalen Gemeinschaft stellen.

Das heutige Ausmaß der Krise ist mithin auch die Folge einer jahrelangen Kopf-in-den-Sand-Politik der EU. Man scheint, die Migrationskrise erst entdeckt zu haben, als die Flüchtlinge an der ungarischen Grenze standen. Mehr noch muss die fehlende Solidarität der USA, Kanadas, Australiens, vor allem aber der reichen Golfstaaten angeprangert werden. Es kann nicht sein, dass sich besonders letztere aus ihrer Verantwortung herausstehlen, mit dem Hinweis, sie finanzierten den Bau von 200 Moscheen in Deutschland!

Vor allem Ankara verdient hingegen mehr Unterstützung für sein außergewöhnliches Engagement. Die EU-Gipfelbeschlüsse sind hier durchaus zielführend. Der jüngste Erdogan-Besuch in Brüssel hat auch deutlich gemacht, dass eine Begrenzung des Flüchtlingsstroms nur mit der Türkei möglich sein wird. Diese neue Zusammenarbeit mit Ankara darf jedoch nicht auf Kosten der Kurden gehen.

Parallel hierzu müssen die Außengrenzen der EU besser gesichert werden. Wir benötigen hier keinen Stacheldraht, sondern mehr sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Europas Außengrenze muss wieder verstärkt kontrolliert werden. Die Grenzschutzagentur Frontex muss gefestigt und die Zusammenarbeit mit Europol intensiviert werden. Nur so werden wir die Akzeptanz der Bürger für Flüchtlinge und Europa sicherstellen können. Sicherheit und Menschlichkeit schließen sich keinesfalls aus: sie bedingen einander.

Darüber hinaus brauchen wir eine Erneuerung der westlichen Außenpolitik im Mittelmeerraum. Dies gilt für die fehlende Strategie Europas, aber auch für die Geopolitik aus der Hüfte Amerikas.

Kurzfristig mit Assad gegen IS-Super-GAU

Doch zurück zu Syrien: Denn vor allem in diesem „Krieg aller gegen alle“ (Hobbes) muss Gewalt herausgenommen werden. Mit einem Stopp von Assads Fassbomben. Denn der erste Schritt zum Frieden ist immer die Waffenruhe. So entsteht Gemeinsamkeit. Und gemeinsame Außenpolitik bedingt gemeinsame Interessen. Paradoxerweise ist die beste Voraussetzung für eine robuste gemeinsame Außenpolitik zumeist eine gemeinsame Bedrohung. Mit dem „Islamischen Staat“ in Syrien und Irak ist diese mehr als gegeben. Keine Welt- oder Großmacht, kein Staat, keine religiöse Strömung kann Interesse an einer Ausbreitung des IS-Terrorgeschwürs haben. Nun hat US-Präsident Barack Obama Recht, wenn er sagt, dass Syriens Machthaber Bashar al-Assad ein Diktator ist, der abgesetzt werden muss.

Aber Russlands Präsident Wladimir Putin liegt auch richtig, wenn er mahnt, dass es ein „großer Fehler“ wäre, kurzfristig nicht mit Assad zu reden. Denn der IS steht fast schon vor Damaskus. Und ein Syrien unter IS-Führung wäre der außenpolitische Super-GAU. Jede realistische Lösung des Syrienkonflikts, aber auch jede effiziente IS-Bekämpfung geht in einer ersten Etappe nur mit und nicht gegen das Assad- Regime. Zudem stellt Assad – im Gegensatz zum IS – keine direkte Bedrohung für den Westen dar. Assad ist also immer auch Teil einer gemeinsamen Lösung mit Moskau. Und nicht nur Teil des Problems.

Ist der Syrienkonflikt dann einmal gelöst und der IS in den Geschichtsbüchern verschwunden, kann progressiv eine stabile wertorientierte Demokratie in Syrien entstehen. Kriegsverbrecher Assad ist langfristig nicht zu halten. Doch im Gegensatz zu Gaddafi muss mit ihm über seinen Abgang verhandelt werden. Die Fehler des Westens in Libyen dürfen nicht wiederholt werden. Denn das Machtchaos in Tripolis ist ein offenes Tor für Schlepperbanden. Ein demokratischer Frühling lässt sich nicht herbeibomben. Geduld gegenüber Assad muss auch die gemäßigte Opposition in Syrien aufbringen. Denn eine langfristige Zusammenarbeit mit Assad ist unzumutbar, wenn man mit Giftgas und Folter bekämpft worden ist. Als Gegenleistung für sein sicheres Geleit muss Assad deshalb sämtliche Gewaltaktionen gegen sein Volk einstellen.

Internationale Nahost-Konferenz mit allen Beteiligten

Vor allem aber muss die moderate Opposition in eine neue Syrienkonferenz eingebunden werden. Idealerweise im Rahmen einer breiten Nahostkonferenz. Wolfgang Ischinger kann hier nur zugestimmt werden. Denn eine Lösung wird es realpolitisch nur mit allen beteiligten Parteien geben. Übrigens auch beim Vorgehen gegen die zweite Ursache der Nahostkrise: gegen den „ Islamischen Staat “.

Ein gangbarer Lösungsweg  könnte wie folgt aussehen: Erstens eine sofortige Waffenruhe mit anschließender Nahostkonferenz (mit Iran, Arabischer Liga sowie in Einbindung der Türkei) unter EU-Führung gemeinsam mit Assad (also nicht ohne erheblichen Druck Moskaus) mit zu beschließenden Schutzzonen und Flugverboten in Syrien. Zweitens ein gemeinsames Vorgehen von Assad-Armee und Oppositionstruppen, irakischen und kurdischen Streitkräften gegen den „Islamischen Staat“  bei gleichzeitiger humanitärer Soforthilfe für die Zivilbevölkerung. Drittens eine gemeinsame politische und militärische Unterstützung von EU, Russland und USA sowie auch von Iran und Saudi-Arabien (also nicht ohne Druck von Washington auf Riad) sowie den restlichen arabisch-islamischen Nachbarstaaten, mit UN-Mandat, mit der Zustimmung von Damaskus und in Abstimmung mit der Opposition. Viertens eine langfristige Stabilisierung des Nahen Ostens mit wirtschaftlichen Hilfen und Perspektiven für die Menschen nach einem erfolgreichen Vorgehen auch mit regionalen Bodentruppen gegen den IS ; 5. ein progressiver Aufbau einer Wertedemokratie in Syrien unter Einbeziehung aller moderaten Strömungen nach einem geordneten Abgang ins Exil von Assad sowie echten Neuwahlen und möglicherweise einer neuen Verfassung.

Europas Werte verteidigen und Verantwortung teilen

Einfach wird dieser Weg nicht sein. Doch in einer ineinandergreifenden Welt gibt es keine einfachen Lösungen. Die Flüchtlingsfrage ist nicht nur mit Herz in Europa und Luxemburg, sondern auch mit Verstand in Damaskus, Bagdad und anderswo anzugehen. Im wohlverstandenen Eigeninteresse der Menschen in Europa, im Mittelmeerraum und in Afrika. Schließen wir mit Europa, denn das verbindende Element von Innen- und Außenpolitik ist in der Flüchtlingsfrage die EU. Es geht hier um das Fundament Europas. Die EU muss eine neue vorausschauende Außenpolitik der Ursachen betreiben und seine Werte konsequenter verteidigen. Allen voran den Vorrang des Rechtsstaats über religiöse Normen sowie die humanistischen Werte der Aufklärung. Heinrich August Winkler hat dies im Schlusssatz seiner „Geschichte des Westens“ auf den Punkt gebracht: „Die Wühlarbeit des normativen Projekts des Westens aber, der Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, ist noch lange nicht zu Ende.“ Ebendiese Werteordnung muss den Flüchtlingen bei ihrer Ankunft in Europa vermittelt werden. Je klarer diese Ordnung durchgesetzt wird, umso mehr spüren Flüchtlinge, dass sie bekommen, was sie erstreben: eine Rechtssicherheit, die in den meisten Herkunftsländern fehlt.

Ebenso klar muss sein, dass, wenn sie diese nicht akzeptieren, sie auch nicht in Europa bleiben können. Um es mit UN-Flüchtlingshochkommissar António Guterres zu sagen: „Europa hat den Moment der Wahrheit erreicht. Jetzt ist es an der Zeit jene Werte zu bekräftigen, auf denen Europa gebaut ist.“ Zur Wahrheit gehört damit auch das Rocard-Wort, dass Europa nicht das ganze Elend der Erde aufnehmen kann. Wohl aber – und dies wird zu oft vergessen – seinen gerechten Anteil an der globalen Verantwortung. Nicht mehr. Aber auch keinesfalls weniger. Vor diesem Hintergrund hat auch die Vergabe des Friedensnobelpreises 2015 an das tunesische Quartett für den nationalen Dialog eine wichtige Signalwirkung. Das Nobel-Komitee unterstreicht damit die Wichtigkeit der Ursachenbekämpfung durch pluralistische Wertevermittlung.

* Der Autor ist Abgeordneter der CSV sowie außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion.