Christlich-soziale Gedanken zur Krise

Die Krise lässt uns nicht los. Knapp vier Jahre nach dem Zusammenbruch der Bank Lehman Brothers diskutiert und streitet die Politik weiter über einen Ausweg. Die Bankenkrise wurde zur Schuldenkrise, wurde zur Eurokrise und bedroht nun den Zusammenhalt der Europäischen Union. Dabei sollte der Euro die europäische Einigung einst unumkehrbar machen. Jetzt droht die Union an der gemeinsamen Währung zu zerbrechen.

Diese Krise war von Anfang an eine Vertrauenskrise. Das Vertrauen in das internationale Finanzsystem wurde tief erschüttert. „Vertrauen ist der Anfang von allem“, warb einst die Deutsche Bank für sich und ihre Finanzprodukte. Dieses Vertrauen wurde von den Bankhäusern leichtfertig zerstört. Die Erkenntnis, dass es sich völlig ungeniert leben lässt, wenn der Ruf einmal ruiniert ist, darf sich für die Finanzwelt nicht bewähren. Es war beschämend zu verfolgen, wie sich die Deregulierer von Gestern in die Arme starker Staaten warfen, um nicht mit in den Abgrund gerissen zu werden. Sicherlich hatte die Politik ein Interesse daran, das System zu stützen. Sicher hatten auch die kleinen Sparer ein Interesse daran, dass sich ihre Guthaben nicht in Luft auflösten. Dennoch bleibt der Eindruck, dass Banker sich geschickt aus ihrer Verantwortung gestohlen haben. Hier steht eine Rechnung auf, die noch nicht beglichen wurde. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die gleichen Rating-Agenturen, die Ramschpapiere positiv bewertet haben, heute als Richter über ganze Volkswirtschaften auftreten können und deren Einschätzung auch noch ernst genommen wird.

Eine Vertrauenskrise

 Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik hat unter dem Eindruck von ständigen Krisengipfeln gelitten. Die astronomischen Geldsummen, mit denen die Schuldenkrise eingedämmt werden soll, übersteigen die Vorstellungskraft der meisten Zeitgenossen. Je länger diese Krise dauert, desto stärker macht sich eine gewisse Krisenmüdigkeit breit. „Die Menschen haben aber die Faxen dicke, dass man sie Tag für Tag mit verwirrenden, hochkomplexen Nachrichten über den Euro überschwemmt. Das erhöht Ressentiments, und es gelingt der Politik nicht, dem Frust eine faszinierende Erzählung über Europa entgegenzusetzen[1]“, stellt auch der deutsche Sozialdemokrat Peer Steinbrück fest. Für die meisten Mitbürger ist der Euro in erster Linie ein Zahlungsmittel und kein politisches Projekt. Eine Währung kann aber nur Bestand haben, wenn die Menschen Vertrauen haben. Dieses Vertrauen wird seit Monaten auf eine harte Probe gestellt.

Statt Krisengipfeln ohne Ende bräuchten wir ein neues Bretton Woods. Die Finanzarchitektur der Welt muss neu und gerecht geordnet werden. Das setzt aber voraus, dass sich Politiker die nötige Zeit und Ruhe gönnen, um sich auf ein neues finanzpolitisches Miteinander zu einigen. Es gibt Entscheidungen, die können nicht im Twitter-Takt getroffen werden. Die Politik braucht sich nicht von den Märkten treiben zu lassen. Die Courage, sich gegen diese Kräfte zu stellen, scheint aber leider noch zu fehlen.

Die Einführung des Euro 1999 litt unter dem Schönheitsfehler, dass der politische Unterbau fehlte. Schon 1991 erklärte Helmut Kohl die Annahme als „abwegig“ man könne auf Dauer eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union erhalten. „Der Übergang zum Euro markiert eine wichtige Zwischenstation auf dem Weg zur weiteren Integration Europas, die jedoch noch der Ergänzung durch mehr Gemeinsamkeit in anderen Bereichen und vor allem effizienterer politischer Strukturen bedarf“, bilanzierte 2005 (vor der Krise!) der frühere Präsident der deutschen Bundesbank Hans Tietmeyer[2] .

Der Euro sollte den Einigungsprozess vorantreiben. Mit dem Konvent unter dem Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing und dem daraus resultierenden Europäischen Verfassungsvertrag war der Versuch einer weiteren Vertiefung auch unternommen worden. Nur scheiterte das Unterfangen am Wählerwillen in Frankreich. Nun mag man bedauern, dass die politische Union noch nicht vollendet wurde. Die Christlich-Sozialen stehen weiter zur Idee eines föderalen Europa. Ob aber die gegenwärtige Situation eine gute Ausgangslage bietet, um eine Debatte über die politische Gestaltung Europas zu führen, darf bezweifelt werden. In der „Zeit“ fragt sich Bernd Ulrich zu Recht, ob es nicht wahrscheinlicher ist, dass „ein riesiges Durcheinander ausbricht, wenn nun zugleich die aktuelle Krise und das Endziel der EU diskutiert werden?“[3]

Kein Europa im Reagenzglas

Wir müssen uns als überzeugte Europäer mit dem Gedanken anfreunden, dass sich Europa nicht im Reagenzglas vereinigen lässt. Wir müssen Europa schon mit den Menschen bauen, die hier leben. Auch mit den Briten. Und so gehört es dazu, dass unterschiedliche Ansichten über das Zusammenarbeiten der Nationen bestehen. Panikmache und das ständige Drohen mit dem Untergang des Abendlandes sind sicher nicht geeignet, eine neue Begeisterung für das europäische Projekt zu wecken.

Einen Ausweg aus der Krise konnte bislang keine Denkschule überzeugend aufzeigen. Müssen wir uns aus der Krise sparen oder sollten wir uns weiter verschulden und mehr Geld in die Wirtschaft pumpen? Dogmatische Antworten sind selten geeignet, um Politik zu gestalten. Im Gegensatz zu Politikern müssen sich Wirtschaftstheoretiker im Nachhinein nicht rechtfertigen, sollten ihre Rezepte aus dem Lehrbuch fehlschlagen.

Eine grundsätzliche Frage wurde nicht wirklich beantwortet: Wollen wir möglichst schnell zurück in die Welt vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers oder wollen wir die Weltwirtschaft gerechter ordnen? Oder wollen wir vielleicht sogar beides?

Christlich-Soziale Politik gründet auf Werten und Grundsätzen, die nicht zur Disposition stehen: Wir stehen für eine soziale und nachhaltige Marktwirtschaft und für eine immer engere politische Zusammenarbeit in Europa.

Diese Grundausrichtungen unserer Politik unterliegen nicht den Launen und Schwankungen der Konjunktur, der Finanzmärkte oder der Meinungsumfragen.

Nach dem Ende des Kalten Krieges kam es weltweit zu einem Eroberungszug der Kreuzritter des freien Marktes. Die Anhänger des reinen Kapitalismus fühlten sich als Gewinner der Geschichte. Gar vom Ende der Geschichte war die Rede. Gegen Ende der Neunziger Jahre entstand so der Eindruck, als könne es nur noch bergauf gehen. Boom und Bust sollte endgültig der Vergangenheit angehören. Heute, eine Internet- und eine Immobilienblase später, wissen wir, das war ein tragischer Trugschluss.

Der Versuchung nicht immer widerstanden

Christlich-Soziale und Christdemokraten hätten sich dieser marktwirtschaftlichen Euphorie nie hingeben dürfen. Manche konnten der Versuchung aber nicht widerstehen. « …die eigentliche Ursache der globalen Krise, in der wir uns befinden, ist das rücksichtslose Sich-Verabschieden von den Kardinaltugenden der Sozialen Marktwirtschaft. Diese verrückte Einstellung, der wir auch als Christdemokraten nicht energisch genug widersprochen haben », erklärt sich Premier Jean-Claude Juncker das Grundübel mit dem die Krise ihren Lauf nahm. « Nicht die Soziale Marktwirtschaft versagt, sondern der Umgang mit dieser Ordnung, den wir unter dem Eindruck neoliberaler Entfesselungstheorie praktiziert haben, hat uns in diese Krise geführt. »[4]

Dabei handelt es sich bei der Sozialen Marktwirtschaft ja nicht um ein Modell, das sich bereits weltweit durchgesetzt hätte. Es hat sich nicht einmal flächendeckend in der Europäischen Union durchgesetzt. Im Gegenteil, nicht nur die angelsächsische Welt hat ein grundlegend anderes Verständnis von Wirtschaft- und Sozialpolitik. Im asiatischen Raum dürfte der « rheinische Kapitalismus » noch ein Geheimtipp sein.

Nach dem Fall der Mauer war die Idee einer Sozialen Marktwirtschaft eher auf dem Rückzug. Der Zeitgeist hatte sich einem liberalen Wirtschaftsdenken verschrieben. Die Globalisierung erfolgte nach den Spielregeln der freien Marktwirtschaft. Das Soziale spielte wenn überhaupt eine Nebenrolle. Da konnte Papst Johannes Paul II. in seiner Enzyklika « Centesimus Annus » noch so sehr davor warnen, dass der Kapitalismus nicht allheilbringend sein wird.

Für Christlich-Soziale blieb und bleibt die Soziallehre der katholischen Kirche weiterhin verbindlich. Vor zehn Jahren hat die CSV dieses Bekenntnis in ihrem Grundsatzprogramm « Jidder Eenzelen zielt » ausdrücklich erneuert.

Eine globale Sozialordnung und eine Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft haben wir uns bereits im November 2002 ins Programm geschrieben. „Wir wollen die globale Wirtschaft durch eine globale Sozialordnung steuern.“ Allerdings sollte zuerst auf europäischer Ebene darauf hingewirkt werden. Und im Rückblick erscheint die Vorgabe „wir wollen eine Regulierung der internationalen Finanzmärkte durchsetzen“, entweder als prophetisch oder utopisch, je nach Sichtweise. Heribert Prantl hat es treffend formuliert: „Sozialpolitik ist nicht ein Annex des Ökonomischen, sie darf es nicht sein; Sozialpolitik ist eine Politik, die Heimat schafft; erst kluge Sozialpolitik macht aus einem Staatsgebilde, aus einer Union eine Heimat für die Menschen, die darin leben. Wer seinen Nationalstaat als Heimat erlebt hat, der will daraus nicht vertrieben werden. Er will, wenn die Heimat Nationalstaat zu schwach wird, Europa als zweite Heimat.“[5]

Gemütlich eingerichtet

Wir haben es uns in Luxemburg gemütlich eingerichtet. Vielleicht zu gemütlich. Wir leben von den Steuereinnahmen eines Finanzplatzes, der uns selbst manchmal nicht ganz geheuer ist. Ja, den die Wenigsten vielleicht überhaupt verstehen. Mitten in unserer Hauptstadt ist eine Parallelwelt entstanden, von der wir nur mit Sicherheit wissen, dass wir ohne sie wirtschaftlich nicht überleben können.

Von Beginn der Krise wurde von den Kennern der Szene versichert, dass der Finanzplatz Luxemburg an der Krise keine Schuld trägt. Selbst als hiesige Bankhäuser ins Wanken gerieten, hieß es, deren Probleme seien anderswo verursacht worden. Die Banken wurden gerettet, die damit verbundenen Lasten Schulden trägt die Allgemeinheit. Auf Dauer kein zu vermittelbarer Zustand.

Wie kann es sein, dass ein internationaler Finanzplatz an den Turbulenzen der internationalen Finanzmärkte ganz unbeteiligt ist? Im Ausland scheint diese Darstellung wenig überzeugt zu haben. Die OECD drohte mit schwarzen und grauen Listen und Luxemburg musste das Bankgeheimnis lüften, um seine Glaubwürdigkeit zu erhalten. Ob der Widerstand gegen eine weltweite Finanztransaktionssteuer ein kluger Schachzug war?

Im Grunde wird in den Krisenjahren die gleiche Debatte geführt wie in den Jahren vor dem Crash. Erinnern wir uns an die Mitte des vergangen Jahrzehnts. Seit jenen Jahren streiten Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften über eine Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit. Eine Lissabon-Strategie jagte die nächste, eine Reform-Agenda folgte auf die andere. Französische Professoren und andere Experten machten auf Systemprobleme aufmerksam, die schnell zerredet wurden.

Aus einer Tripartite zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit wurde im Zuge der Krise eine Tripartite zur Sanierung der Staatsfinanzen. Deren Zustand hat sich nach mehreren Rettungspaketen nicht wesentlich verbessert. Dabei tauchte auch immer wieder die Index-Frage auf. Kann das System der automatischen Lohnanpassung in diesen Zeiten noch Bestand haben? Die Regierung konnte gegen Widerstände Modulierungen und Verschiebungen von Index-Anpassungen durchsetzen. Eine strukturelle Reform des Index war aber weder mit den Gewerkschaften, noch – aus Sicht der CSV – mit dem Koalitionspartner LSAP zu machen.

Bis zum Ende der Legislaturperiode sollten die öffentlichen Finanzen wieder im Gleichgewicht sein. Ob dieses Ziel noch erreicht werden kann, ist mehr als fraglich. Für die CSV war stets klar, dass Mitte dieser Legislaturperiode eine Exit-Strategie den Weg aus der Schuldenfalle aufzeigen müsste. Sicher ist nur, dass der Zentralstaat weiterhin eine Milliarde Euro jährlich mehr ausgibt als an Steuern eingenommen werden. Die einfache Lösung könnte darin bestehen, lediglich die Abgabenlast zu erhöhen. Aber wirklich überzeugt scheint niemand zu sein, dass dies eine Option ist. Kapitalflucht wäre unweigerlich die Folge. Man kann bedauern, dass dies überhaupt möglich ist. Man kann das Steuerdumping und eine unlautere Konkurrenz durch andere Standorte kritisieren. Nur müssen wir bedenken, dass dies auch zu unserem Geschäftsmodell gehört.

Die CSV stand in all dieser Zeit in der Verantwortung und schämt sich nicht für die Entscheidungen die getroffen wurden. Unser Anspruch muss es sein, das Land gerecht durch die Krise zu führen. Die Vorgabe, dass breite Schultern mehr tragen müssen, ist richtig. Aber sie muss auch in die Tat umgesetzt werden. Es kann nicht sein, dass nur die junge Mittelschicht zur Kasse gebeten wird.

Wir sind in der Europäischen Union zurzeit viel mit uns selbst beschäftigt und vergessen, dass vor unserer Haustür ein Bürgerkrieg in Syrien tobt, sich um das Mare Nostrum junge Demokratien auf den Weg machen, die unsere Unterstützung brauchen und eine erneute Hungerrevolte droht, sollten die Preise für Grundnahrungsmittel weiter dramatisch in die Höhe getrieben werden. Und dann bezweifele ich, dass der Klimawandel uns eine Euro-Atempause gegönnt hat.

Wir dürfen nicht zulassen, dass all diese Krisen am Ende unsere Demokratie bedrohen. Nur wenn sich viele engagieren, kann uns das gelingen.

Source: Forum  (www.forum.lu/ )


[1] In: „Das wird schwer für die SPD“, Interview in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 11./12. August 2012.

[2] Hans Tietmeyer, in „Herausforderung Euro“, Hanser Verlag, 2005.
[3] Bernd Ulrich, in „Die Zeit“, 9. August 2012.

[4] in: Europa und die Schuldenkrise, Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Wolfgang Bergsdorf, „Die Politische Meinung“, Mai 2012.

[5] Heribert Prantl, „Wir sind viele, eine Anklage gegen den Finanzkapitalismus“, Süddeutsche Zeitung Edition Streitschrift 2011.