Das LW-Interview zum heute beginnenden EU-Gipfel. Die 27 europäischen Staats- und Regierungschefs wollen bei dem heute in Brüssel beginnenden EU-Gipfel eine gemeinsame Position als Reaktion auf die globale und in großem Maße auch Europa treffende Wirtschaftskrise formulieren. Im Interview mit dem Luxemburger Wort unterstreicht Premierminister Jean-Claude Juncker, dass diese Antwort „substantiell, kurzfristig, zeitlich befristet und zielorientiert“ sein müsse.
Herr Premierminister, die Wirtschaftskrise wird wohl diesen Gipfel an erster Stelle beschäftigen. Das Londoner Treffen von Brown, Sarkozy und Barroso am Montag lässt allerdings auf wenig Einigkeit schließen, oder …?
Nun, dieses Treffen in London gehört zu einer nicht unbedingt atypischen Vorgipfelchoreografie und ist insofern durchaus kein abnormer Vorgang. Ich würde dem denn auch keine dramatische Bedeutung beimessen.
Aber die EU ist gefordert, gemeinsam und entschlossen zu handeln. Wie soll dieses Handeln aussehen, und vor allem, wie soll es zum Erfolg führen?
Der Befund der 27 EU- sowie der ab Januar 16 Eurogruppenländer ist eindeutig: Europa befindet sich in der Rezession. Dieser Erkenntnis müssen wir uns stellen. Viele europäische Regierungschefs sind überrascht angesichts der Heftigkeit des von der amerikanischen Subprime-Krise ausgehenden Rückgangs der Realwirtschaft. Jetzt kommt es darauf an, eine starke wirtschaftspolitische Antwort auf die globalen sowie auf die europäischen Aspekte dieser globalen Krise zu finden. Die EZB hat auf der geldpolitischen Seite bereits adäquat reagiert, womit Wachstumschancen unterstützt und rezessive Tendenzen gebremst werden. Wir müssen zusätzlich eine wirtschaftspolitische Antwort formulieren. Diese muss substantiell sein, kurzfristig sowie zeitlich befristet und zielorientiert. Sie muss zudem den Handlungsdimensionen des 2005 unter luxemburgischer Ratspräsidentschaft reformierten europäischen Stabilitätspaktes Rechnung tragen.
Haushaltspolitisch bedeutet das aber auch steigende Defizite …
Nun ja, bei den Haushaltsausführungen wird es notgedrungen zu Defiziterweiterungen kommen, die von den automatischen Stabilisatoren, d.h. expansive Entwicklungen im Sozialbereich, verursacht werden. In einer Rezessionsphase dürfen bei sinkenden Steuereinnahmen nicht auf der Ausgabenseite Kürzungen, z.B. bei der Entschädigung für Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit, vorgenommen werden, die die Rezession nur noch verschlimmern bzw. die Menschen oder Betriebe in untragbare Situationen versetzen. Deshalb haben wir kürzlich beschlossen, die staatlichen Leistungen bei der Finanzierung der Kurzarbeit zu verstärken. Allerdings wird dies auf die Dauer eines Jahres beschränkt bleiben. Insofern soll auch der Hauptakzent der europäischen Konjunkturprogramme, von denen noch vor vier Monaten angenommen wurde, sie seien unnötig, auf den öffentlichen Investitionen liegen, aber auch auf der Stärkung der Kaufkraft vor allem der einkommensschwachen Bevölkerungsschichten. In Luxemburg machen wir das z.B. über den Ausbau der öffentlichen Kommunikationstechnologien, um mit besseren Infrastrukturen auf den Aufschwung, der sicher kommen wird, vorbereitet zu sein, aber auch durch das Vorziehen auf 2009 von so manchen Investitionen, die erst für später geplant waren.
Luxemburg ist in der glücklichen Situation, über genügend Reserven zu verfügen, um sich eine solche Politik leisten zu können …
… es ist keine glückliche Situation, sondern in einer durch politischen Willen herbeigeführten Situation, die günstiger ist als jene anderer Länder. Tatsache ist, dass es Länder, wie Luxemburg, Deutschland oder auch Holland, gibt, die sich durch Sparmaßnahmen einen Interventionsspielraum geschaffen haben. Zur Philosophie und Struktur der europäischen bzw. nationalen Hilfsprogramme gehört, dass diese untereinander so verzahnt werden müssen, um daraus eine gesamteuropäische wirtschaftspolitische Antwort zu bilden. Das bedingt auch, dass diese Pläne sich nicht negativ, d.h. wettbewerbsverzerrend in anderen europäischen Ländern auswirken. Eine Koordinierung und ein Konsens müssen also im investiven Bereich bestehen.
Auf individuelle Lebensverhältnisse einwirken
Und wie steht es in dieser Hinsicht um die Entwicklungschancen der Luxemburger Wirtschaft? Wie ist es um den Standort bestellt?
Unsere stark exportorientierte Wirtschaft ist auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass die Wiederankurbelungsprogramme in Frankreich, Deutschland und Belgien wirksam sind, denn davon wird auch die luxemburgische Wirtschaft profitieren. Die kritische Masse fehlt Luxemburg, um eigene Wachstumskräfte zu mobilisieren. Wir können aber auf die individuellen Lebensverhältnisse der Menschen in unserem Land über Steuererleichterungen, Teuerungszulage und TVA-Absenkungen, betriebliche Einstellungszulagen usw. einwirken und damit einige Jahre überbrücken, um nach der Krise wieder besser durchstarten zu können. Wir werden nach der Krise infrastrukturell und organisatorisch besser aufgestellt sein müssen als vor der Krise. Zudem müssen wir, sowohl EU-weit als auch in Luxemburg, Wachstumsanstrengungen mit Klimaschutzaufgaben in Einklang bringen.
Riskiert aber nicht, unter den derzeitigen negativen wirtschaftlichen Voraussetzungen, gerade der Klimaschutz die Kosten der Wirtschaftsrelance tragen zu müssen?
Ich lege Wert darauf, dass wir an den Plänen festhalten, um in Sachen Klimaschutz Fortschritte zu erzielen. Wenn wir es richtig anstellen, wird die Wirtschaftskrise einmal zu Ende sein; die Klimakrise aber bleibt. Wegen der Wirtschaftskrise können wir nun nicht in der Klimaschutzpolitik tatenlos bleiben. Deshalb muss bei diesem Gipfel klargestellt werden, dass an den großen Zielsetzungen des Klimapakets nicht gerüttelt wird, auch wenn manche Länder, darunter Luxemburg, noch Schwierigkeiten bei der politischen Umsetzung der festzulegenden Mechanismen haben werden. Es wird also auf flexible Lösungsansätze ankommen, um auch in der Praxis die Klimaziele zu erfüllen. In Luxemburg werden wir Schwerpunkte in den Bereichen der alternativen Energien und der Energieeinsparung setzen, wobei wiederum ein Augenmerk der wirtschaftlichen Unterstützung kleinerer und mittlerer Betriebe gelten wird.
Welche Erwartungen setzen Sie in diesen Gipfel, damit der Lissabon-Vertrag endlich umgesetzt werden kann?
Ich habe dem irischen Regierungschef bei dessen kürzlichen Besuch in Luxemburg bereits zu verstehen gegeben, dass mindestens drei der vier aus irischer Warte bestehenden Problempunkte bereits im Lissabon-Vertrag eine Antwort finden. Dieser kann weder einen Einfluss auf die irische Neutralität noch auf das irische Abtreibungsgesetz oder auf die irische Steuergesetzgebung haben. In der Frage des Prinzips von einem EU-Kommissar pro EU-Land wird man Kompromissbereitschaft und Pragmatismus zeigen müssen. Kleinere Länder sind nicht automatisch dadurch besser geschützt, dass sie automatisch einen Kommissar haben. Wenn wir bei diesem Gipfel dahingehend eine Einigung mit Dublin finden, kann man von einer irischen Vertragsratifizierung in der zweiten Jahreshälfte 2009 ausgehen, sodass der Lissabon-Vertrag zum 1. Januar 2010 in Kraft treten könnte. Ob das nun über den Weg eines Referendums erfolgt oder nicht, bleibt natürlich Irland überlassen. Zu bedenken bleibt, dass, im Fall, wo Lissabon nach den Europawahlen stattfinden sollte, man sich an die Vorgaben des Vertrags von Nice zu halten haben wird, z.B. was die Zahl der zu wählenden Europaparlamentarier anbelangt, die Zahl der EU-Kommissare usw. Alles Fragen, die sich stellen werden und die es dann zu klären gilt.
Wie beurteilen Sie die nun zu Ende gehende französische EU-Präsidentschaft?
Die französische Präsidentschaft würde ich als insgesamt gelungen bezeichnen. Unter französischem Impuls, wenn auch nicht nur auf französische Initiative hin, wurde die EU in zentralen Fragen der europäischen Politik tätig. Der Krieg in Georgien hätte ohne das beherzte Eingreifen der EU und des französischen Präsidenten nicht so schnell beendet werden können. Im Kontext der Finanz- und Bankenkrise war es wichtig, dass die verschiedenen Instanzen der Europäischen Union sich schnell auf gemeinsame Linien einigen konnten. Auch war es gut, dass es unter europäischem Impuls zu einem Krisentreffen der G20-Staaten kam. Wenn wir nun auch noch zu einem zufriedenstellenden Ergebnis in Sachen Klimaschutz kommen, wird die Erfolgsbilanz der französischen EU-Ratspräsidentschaft in idealer Weise abgerundet werden.
Mit welchen Gefühlen und Erwartungen blicken Sie der tschechischen EU-Präsidentschaft ab Januar 2009 entgegen?
Die Tschechen wissen, dass Europa auf sie blickt, weil es ihre erste Präsidentschaft ist und weil es erheblichen Dissens in der politischen Klasse in Prag gibt, was die Ausrichtung der Europapolitik anbelangt. Tschechien ist, nach Slowenien, das zweite der 2004 beigetretenen neuen EU-Länder, denen nun diese wichtige Verantwortung zufällt. Die Luxemburger Regierung wird alles unternehmen, um es dabei zu unterstützen.
Quelle: Luxemburger Wort, 11. Dezember 2008, Marcel Kieffer, Marc Glesener