Premierminister Jean-Claude Juncker im Deutschlandfunk zur konjunkturellen Lage in Europa und zum bevorstehenden EU-Rat
Deutschlandfunk: Am Telefon ist nun der luxemburgische Regierungschef Jean-Claude Juncker. Guten Morgen.
Jean-Claude Juncker: Guten Morgen.
Deutschlandfunk: Herr Juncker, ist Deutschland verzichtbar, wenn es um Absprachen dieser Art wie gestern auf europäischer Ebene geht?
Jean-Claude Juncker: Nein, ohne Deutschland wird es nicht möglich sein im Laufe dieser Woche in Brüssel ein vernünftiges Ergebnis zu erzielen. Frau Merkel muss nicht nach London fahren um Einfluss in der Europäischen Union zu haben. Diese Londoner Sitzung, die einige Aufgeregtheiten, mehr in der veröffentlichten öffentlichen Meinung, als in Regierungskreisen ausgelöst hat, ist Teil typischer Vorgipfelchoreographie. Andere treffen sich auch, man sollte das nicht dramatisieren.
Deutschlandfunk: Aber die Töne in vergangenen Tagen in der französischen und britischen Presse, teilweise auch der amerikanischen, waren doch deutlicher, als man das eigentlich gewohnt ist. Man muss irgendwie Deutschland zum Jagen tragen, hiess es, "Madame No" wurde geschrieben. Ist das wirklich alles nur, sozusagen, aufgeschäumt von der Presse?
Jean-Claude Juncker: Also, ich mache nicht gerne eine pauschale Presseschelte, das bringt uns ja nicht weiter.
Diese Unterstellungen an die deutsche Adresse, also ob Deutschland hier den anderen europäischen Partnern nachhinken würde, dass man die Kanzlerin und das ganze Kabinett zum Jagen tragen müsste, ist von mir aus betrachtet nicht als Kritik, falls es als Kritik formuliert worden wäre, nachvollziehbar.
Wir arbeiten sehr intensiv, viele von uns, zusammen. Die Finanzminister haben auf Ebene der Eurogruppe und des ECOFIN-Rates alle Teilelemente zusammengetragen aus dem sich der Stoff ergibt aus dem die französische Ratspräsidentschaft ihre Schlussfolgerungen ziehen muss.
Was heisst hier "Madame No"? Die Kanzlerin hat, wie andere auch, das Recht auf nationale Befindlichkeiten hinzuweisen, hat sich aber überhaupt nie verweigert an diesem europäischen Konjunkturpaket mitschnürend tätig zu werden.
Deutschlandfunk: Sie hat sich nicht verweigert, aber andere Staaten, wie etwa Grossbritannien, fordern einen aggressiveren Konjunkturimpuls. Ist das eine falsche Forderung der britischen Regierung?
Jean-Claude Juncker: Das ist keine falsche Forderung, weil wir uns ja bewusst sind, dass wir in einer Krise stecken, die wesentlich dramatischer vom Ablauf und von der Dauer her sein wird als alles bisher Bekannte. Dass wir eine starke, auch wirtschaftspolitische Gesamtantwort der Europäischen Union auf die Krise formulieren müssen steht ausser Frage.
Wir werden gegen Ende dieser Woche darüber debattieren was wir tun sollen, und die Vorschläge die auf dem Tisch liegen sind eigentlich nichts anderes, als dass ein europäischer Werkzeugkasten auf den Tisch gestellt wird, dessen Instrumente so genutzt werden, wie es der jeweiligen nationalen Lage entspricht.
Und es wird wichtig sein, diese nationalen Konjunkturprogramme, diese nationalen Wiederankurbelungsprogramme so miteinander zu verzahnen, dass sich daraus eine gesamt-europäische Antwort auf die Krise ergibt.
Deutschlandfunk: Es wird debattiert werden, sagen Sie, beim EU-Gipfel. Die Ansätze, die zur Lösung der Krise angedacht sind, sind tatsächlich sehr unterschiedlich in den verschiedenen Staaten. Was müsste denn Ihrer Meinung nach das wünschenswerte Ergebnis dieser Debatte über die verschiedenen Tools sein?
Jean-Claude Juncker: Es wird notwendig sein, dass alle sich auf den Weg machen konjunkturpolitisch gegenzusteuern, und die Instrumente, die man zu dieser Gegensteuerung braucht, sind sehr unterschiedlich, weil die Ausgangslagen der Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich sind.
Es gibt Staaten wie Deutschland, wie die Niederlande, wie Luxemburg die auf Grund tugendhafter Politik sich in den vergangenen Jahren Haushaltsmargen an die Hand gegeben haben, die sie jetzt einsetzen können um Konjunkturprogramme auf den Weg zu bringen.
Es gibt sehr unterschiedliche Arbeitslosenraten in der Europäischen Union, es gibt sehr unterschiedliche Wirtschaftsdaten, was das Wachstum anbelangt.
Es wird nicht so sein, und deshalb mahne ich auch Pragmatismus an, dass jeder dasselbe tut. Es darf nur niemand etwas tun, was dem Nachbarland oder anderen Staaten in der Europäischen Union schaden würde. Es darf keine negativen Überspringeffekte von einem Land ins andere geben. Das werden wir auch zu leisten im Stande sein.
Deutschlandfunk: Und was wären solche Übersprungseffekte?
Jean-Claude Juncker: Ich glaube, wenn man beispielsweise unbedacht, weil dies zu Wettbewerbsverzerrungen führen könnte, in Sachen Mehrwertsteuerabsenkung Dinge täte, die Schwierigkeiten in anderen Ländern provozieren könnten, weil wir bewegen uns in einem Binnenmarkt.
Die Eurogruppe-Länder haben für sich entschieden, dass sie nicht, so wie die Briten, diese Mehrwertsteuerabsenkung machen. Dies wird auch, mit Ausnahme Grossbritanniens, von niemandem wirklich eingeklagt.
Es wird so sein, dass wir uns alle im Bereich öffentliche Investitionen dazu bekennen werden müssen, dass wir den Hauptakzent der europäischen Konjunkturmassnahmen in diesem Bereich platzieren. Es wird wichtig sein, dass die Massnahmen die wir treffen zeitlich befristet sind, dass sie zielorientiert sind, dass sie sektorspezifisch sind. All dies werden die Elemente sein, aus denen sich die Schlussfolgerungen am nächsten Freitag ergeben werden.
Deutschlandfunk: Herr Juncker, Grossbritannien, wenn ich es richtig weiss, strebt eine Neuverschuldung wohl allein im nächsten Jahr an, die 8% des Bruttoinlandproduktes entsprechen würde. Was wird aus dem europäischen Stabilitätspakt?
Jean-Claude Juncker: Der europäische Stabilitätspakt wurde, nebenbei bemerkt, unter luxemburgischem Vorsitz, im März 2005 novelliert, reformiert, und sieht Flexibilitätsdimensionen für eine Wirtschaftslage vor, wie diejenige, in der wir jetzt, leider Gottes, angekommen sind. Es wird vorübergehend akzeptiert, dass es zu einer Defiziterweiterung kommt.
Allerdings ist klarzustellen, falls es noch nicht jedem klar wäre, dass der europäische Stabilitätspakt weiterhin gilt, dass also nach einer gewissen Zeit, in der wir zeitgleich mit der Konjunkturerholung den Stabilitätspakt atmen lassen, es wieder zu einer absoluten Rückkehr zu einer strikten Haushaltskonsolidierung kommen muss. Wer jetzt übertriebene Sparmassnahmen ergreifen würde um einigen Auflagen des Stabilitätspaktes gerecht zu werden, der liefe Gefahr konjunkturabknickend zu wirken. Das werden wir nicht tun.
Aber wenn wir die Grössen, die Haushaltsgrössen die wir über die 3% Defizitgrenze hinaus bewegen werden, strikt im Bereich öffentlicher Investitionen, gezielter Steuerabsenkungen, dort wo dies angebracht scheint, wenn wir dies in einem direkten Zusammenhang mit weiteren Ausgaben für Forschung und Entwicklung bringen, dann wird sich herausstellen, am Ende des Tages, dass der Stabilitätspakt sich der Lage vernünftig angepasst hat.
Deutschlandfunk: Und 8% Neuverschuldung wäre dann auch in Ihrem Sinne, oder im Interesse des Stabilitätspaktes?
Jean-Claude Juncker: Nein, das wäre überhaupt nicht in meinem Sinne, und Grossbritannien ist ja auch nicht Teil der Eurogruppe. Die disziplinierenden Stringenzregeln des Stabilitätspaktes gelten ja in allererster Linie für die Mitgliedsstaaten der Eurogruppe. Und dort wird klargestellt werden, und dort wurde von den Finanzministern auch schon klargestellt, dass die Wiederanpassung der Haushaltslagen an eine dann wieder erstarkende Konjunktur sichergestellt werden muss.
Deutschlandfunk: Herr Juncker, abschliessend: eine gewisse Verschiebung in den Gewichten in der Europäischen Union meinten viele in den vergangenen Wochen zu beobachten, über die Differenzen was die Konjunkturmassnahmen angeht. Davon können Sie nichts erkennen?
Jean-Claude Juncker: Ich kann davon nichts erkennen, und beteilige mich auch nicht an dem was ich als ein Spiel begreife. Wir sind hier damit beschäftigt, eine Antwort auf die Krise zu formulieren, und ich bin an diesen Solotänzen, die einige denken organisieren zu müssen, eigentlich wenig interessiert.
Wir haben dafür zu sorgen, weil wir im Auftrag der Menschen zu arbeiten haben, dass wir möglichst schnell aus dieser doch dramatischen Krise, herauskommen. Anstatt uns über Vorgipfelchoreographie zu streiten, sollten wir uns zielorientiert auf die Ergebnisse konzentrieren. Und dort wird es keine Ergebnisse geben, ohne deutsches Mittun, und das deutsche Mittun ist in meinen Augen gesichert.
Deutschlandfunk: Jean-Claude Juncker, der Regierungschef von Luxemburg war das. Ich bedanke mich für das Gespräch, Herr Juncker.
Jean-Claude Juncker: Bitteschön.
Quelle: Deutschlandfunk, 9. Dezember 2008