Premierminister Jean-Claude Juncker warnt vor Isolierungsstrategie. Premier Jean-Claude Juncker hat in der Financial Times Deutschland Europa davor gewarnt, Irland nach dem Votum gegen den Lissabon-Vertrag unter Druck zu setzen oder zu isolieren.
"Ich bin darüber beunruhigt, dass es vor allem großen EU-Staaten an Sensibilität gegenüber Irland fehlt", sagte der Regierungschef gestern der FTD. "Wir überwinden die Krise nicht, wenn wir den Iren Standpauken halten oder sie in die Ecke stellen."
Juncker stellt sich damit gegen erste Reaktionen aus Deutschland, Frankreich und anderen Ländern auf den negativen Ausgang des irischen Referendums. Bundesaußenminister Frank- Walter Steinmeier (SPD) hatte Irland einen Teilausstieg aus der EU nahegelegt. Frankreichs Europaminister Jean-Pierre Jouyet hatte von den Iren eine zweite Abstimmung gefordert. Die Äußerungen lösten in Irland und anderen EU-Staaten Empörung aus.
"Ich hielte es für verhängnisvoll, wenn wir Irland ausgrenzen würden", sagte Juncker. Er nannte es "arrogant", den Iren zu sagen, ihr Votum zähle nicht, weil es aus einem kleinen Land käme. "Ich bin ein Spezialist für kleine Staaten. Sie mögen es nicht, wenn die Großen ihnen Lektionen erteilen." Die EU müsse mit Irland einen Weg aus der Krise finden.
Auch andere Schlüsselpersonen unter den Staats- und Regierungschefs gingen gestern demonstrativ auf Irland zu. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) warnte bei einem Besuch in Warschau davor, den Inselstaat auszugrenzen. Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy sprach sich bei einer Visite in Prag gegen eine Dramatisierung der Lage aus. Europa dürfe sich nicht auseinanderdividieren lassen. Sarkozy übernimmt ab Juli für sechs Monate den EU-Ratsvorsitz. Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner sagte: "Wir sind alle Iren."
Die EU hatte sich direkt nach der irischen Ablehnung darauf verständigt, die Ratifizierung des Vertrags voranzutreiben. Bislang haben 17 Staaten das Regelwerk angenommen. In Deutschland liegt der Text nach seiner parlamentarischen Annahme wegen einer Klage beim Bundesverfassungsgericht. Der irische Premier Brian Cowen will seinen Amtskollegen beim EU-Gipfel am Donnerstag erklären, welche Wege er für sein Land aus der Krise sieht. Der Vertrag tritt nur in Kraft, wenn ihm alle Länder zustimmen.
Nach hektischen Kontakten der Staats- und Regierungschefs und dem Außenministertreffen gestern in Luxemburg zeichnen sich die Konturen einer Lösung aus der Referendumskrise ab. So verlautete aus Kreisen der Regierungschefs, es könnten Irland einige Protokolle und Erklärungen angeboten werden, um die Ängste der irischen Wähler vor Eingriffen in die nationale Souveränität zu entkräften. Dazu könnten Klarstellungen gehören, dass der Lissabon-Vertrag nicht zu einer Legalisierung von Abtreibungen führe, die Neutralität des Landes nicht antaste und Dublins Vetorecht bei EU-Steuerbeschlüssen nicht infrage stelle.
Der Vorteil dieses Vorgehens ist, dass es den Vertrag nicht verändert und die anderen Staaten das Regelwerk nicht ein zweites Mal ratifizieren müssen. Steinmeier sagte nach dem Außenministertreffen, es werde "nachgedacht, ob das dänische Modell von 1992 oder andere Sonderregelungen ein Vorbild sein können". Die Zustimmung der dänischen Wähler zum Maastricht- Vertrag wurde damals im zweiten Anlauf durch solche Protokolle und Erklärungen bewirkt. Cowen schließt ein zweites Referendum nicht aus. Irlands Außenminister Micheal Martin sagte, sein Land wolle "im Herzen Europas" bleiben.
"Sollten die Iren dem Vertrag am Ende zustimmen können, könnte er so oder in ganz leicht abgeänderter Form in Kraft treten", sagte Juncker allerdings nicht mehr wie geplant am 1. Januar 2009. Dieser Termin sei "kein realistisches Szenario mehr", so Juncker.
Der Premierminister betonte jedoch, integrationswillige Regierungen würden sich von einer dauerhaften irischen Ablehnung nicht aufhalten lassen. "In diesen Fall gilt der Nizza- Vertrag eben weiter", sagte Juncker. "Dieser Vertrag sieht vor, dass einige Länder ihre Integration im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit weiter vertiefen können." Das Instrument erlaubt es einer Gruppe von mindestens acht EU-Ländern, etwa bei in der Verteidigungs- oder der Steuerpolitik enger zu kooperieren als der Rest.
Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, das sich außerhalb der EU-Verträge bildet, lehnt der Regierungschef ab. Solche Szenarien, die auf einer Regierungskooperation ohne EU-Kommission oder Europaparlament beruhen, werden besonders in Frankreich diskutiert. Der Premier warnte vor den Unwägbarkeiten, die eine "Zusammenarbeit ohne Vertragsgrundlage" darstelle.
Quelle: Financial Times Deutschland, 17. Juni 2008, Wolfgang Proissl, Fidelius Schmid