„Kein Übergangsgipfel“

Die Lissabon-Strategie, der Klimaschutz-Prozess und die Entwicklung an den Finanzmärkten werden das Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs heute und morgen in Brüssel thematisch dominieren. Im Vorfeld des traditionellen Frühjahrstreffens – „kein Übergangsgipfel“ – ging Premierminister Jean-Claude Juncker auf die einzelnen Punkte der Tagesordnung ein. Dies im Wort-Interview mit den „Wort“-Journalisten Marc Schlammes und Ady Richard

Welche Erwartungen knüpfen Sie an den Gipfel? Man gewinnt den Eindruck, als ob es ein Übergangsgipfel sei?

Der Begriff „Übergangsgipfel“ gefällt mir nicht. Auch wenn die Gipfeltreffen etwas Routinemäßiges haben, so stehen wir doch in der Pflicht, dem europäischen Prozess stets neue Impulse zu geben und dafür zu sorgen, dass die Züge, die auf die Schienen gesetzt wurden, auch an ihr Ziel gelangen. 

Diesmal erwarte ich mir demzufolge Akzente in den Bereichen Klimaschutz, Finanzpolitik und Lissabon-Strategie. Beim Klimaschutz muss das Klimapaket der Kommission so bearbeitet werden, dass bis Jahresende eine europäische Entscheidung steht. 

Lissabon, die Strategie, nicht der Vertrag, wird auch diskutiert werden. Ein Thema, das Ihnen am Herzen liegt…

Bei der Lissabon-Strategie wollen wir uns auf den zweiten Dreijahreszyklus verständigen. Auch wenn es sich um einen europäischen Prozess handelt, sind doch die Staaten bei der Umsetzung gefordert. Ich denke hier besonders an die soziale Dimension. 

Europäer unter der Armutsgrenze nicht ihrem Schicksal überlassen

Inwieweit kann der Lissabon-Strategie eine sozialere Ausrichtung verliehen werden?

Ich muss zur Kenntnis nehmen, dass sich Sozialstandards nicht durchsetzen lassen. Es gibt aber genügend andere Handlungsbereiche. Beispiel Armutsbekämpfung. Wir dürfen 50 Millionen Europäer, die unter der Armutsgrenze leben, nicht ihrem Schicksal überlassen.

Diese soziale Dimension hat vor einigen Wochen einmal mehr stark gelitten, als bekannt wurde, dass Nokia ein Werk von Deutschland nach Rumänien verlegen wird. Welchen Einfluss kann die Politik auf diese, nicht zuletzt durch die europäische Subventionspolitik unterstützte Delokalisierungspolitik nehmen?

Gewiss muss man sich auch mit Fällen wie Nokia auseinandersetzen. Dabei sollte man in Erwägung ziehen, dass Konzerne, die delokalisieren, Subventionsgelder wieder zurückgeben. 

Für reichlich Schlagzeilen sorgte zuletzt die Finanzwelt. Es gab die Krise am US-Hypothekenmarkt, risiko- und verlustreiche Geldoperationen einzelner Bankinstitute, und die Liechtenstein-Affäre. Mit welcher Reaktion darf beim EU-Gipfel gerechnet werden?

Mit Blick auf die Auswirkungen der US-Krise stelle ich fest, dass die Europäische Zentralbank richtig gehandelt hat. Sorgen bereitet mir aber die Entwicklung der Finanzwelt an sich. Wir müssen uns unbedingt mehr Wissen aneignen über die Palette an Produkten, die angeboten werden. Es ist doch mehr als bedenklich, dass die Finanzinstitute eine Realität geschaffen haben, wo es um möglichst risikofreudige Geschäfte geht, ohne jegliche Absicherung. Die Endkonsequenzen risikohafter Produkte werden oft nicht bedacht. Es wäre gut, von diesem Weg abzurücken. 

Internationales Finanzsystem: Mehr Transparenz

Ist das internationale Finanzsystem als solches eigentlich ausreichend transparent?

Eindeutig nicht: Wir müssen hier für mehr Transparenz sorgen. Die Vielzahl an undurchsichtigen Finanzprodukten muss einmal eingehend durchleuchtet werden. Die nationalen Aufsichtsbehörden müssen hier besser zusammenarbeiten. Eine gesamteuropäische Aufsichtsbehörde ist kein gangbarer Weg. Ich werde auf dem Gipfel im Übrigen auf Anfrage der slowenischen Ratspräsidentschaft über die Lage auf den Finanzmärkten berichten.

Bleiben wir beim Stichwort Slowenien: Mit dem Adriastaat führt erstmals einer der zehn Neulinge die Union. Wie fällt Ihre bisherige Bilanz aus?

Nach gerade mal der Hälfte des Vorsitzes verbietet sich eine Gesamtbewertung. In den Fachministerräten haben sich die Slowenen aber bewährt.

Ljubljana hat die Kosovo-Frage zu einem Leitmotiv ihrer Ratspräsidentschaft gemacht. Mit der Unabhängigkeitserklärung wurde die Status-Frage eigentlich geklärt. Viele Fragen um die Zukunft des jüngsten Landes und der Region bleiben jedoch offen…

Der Gipfel wird zu keiner anderen Einschätzung kommen als die Außenminister. Da der Status quo nicht haltbar war, muss nun gewährleistet werden, dass die Bedingungen der Unabhängigkeit stimmen. Dazu gehört in erster Linie der Schutz der serbischen Minderheit.

Wenig Grund zur Freude gibt die Entwicklung in Serbien. Inwieweit kann sich die Union einmischen?

Serbien erlebt zurzeit eine Phase innenpolitischer Unruhe. Die Gemengelage ist schwer einzuschätzen vor den anstehenden Neuwahlen. Wir müssen an Belgrad appellieren, dass wir Serbien als stabiles Mitglied der Staatenfamilie haben wollen, und auf seine europäische Perspektive verweisen.

Und wie muss sich die EU gegenüber Russland verhalten? Wie sieht Ihr Aufruf an Präsident Putin aus?

Diese Frage wird beim Nato-Russland-Rat am 6. April erörtert werden. Auch Präsident Putin wird daran teilnehmen.

Für innereuropäische Aufregung und deutsch-französische Dissonanzen sorgte der Vorstoß des französischen Präsidenten, eine Mittelmeerunion zu schaffen. Nun haben sich Merkel und Sarkozy überraschend am Dienstag geeinigt und wollen nun gemeinsam das Projekt vorstellen. Welche Meinung haben Sie zu dieser Initiative?

Der Grundton meiner Gedanken in Sachen Mittelmeerunion ist positiv. Aber wir müssen die Details von heute Abend abwarten. Wichtig ist, dass alle Staaten der EU daran teilnehmen können. Und es darf keine neue Parallelstruktur entstehen. Paris und auch Berlin müssen uns vom Mehrwert einer solchen Union überzeugen.

Dies ist doch gerade das Problem. Steht die Mittelmeerunion nicht in Konkurrenz zum bereits bestehenden Barcelona-Prozess? Und stört es Sie nicht, dass Paris und Berlin die Sache im Vorfeld bereits abgesprochen haben?

Das stört mich eigentlich nicht sonderlich. Allerdings würde mich stören, wenn die Mittelmeerunion in Konkurrenz zum Barcelona-Prozess treten würde. Diese interkulturellen Brücken müssen weiter geschlagen werden. Sowohl das Konflikt- als auch das politische Potenzial des Mittelmeerraumes sind gewaltig.

Klimawandel: "Vor allem die Armen werden darunter zu leiden haben"

Vor Jahresfrist dominierte die Energie- und Klimafrage den EU-Gipfel. Jetzt, wo es um die Umsetzung des Klimapakets der Kommission geht, tun sich die Mitgliedstaaten schwerer. Wird der Gipfel neue Impulse geben? 

Mir war schon vor Jahresfrist klar, dass die Umsetzung kein leichtes Unterfangen wird, weil die einzelnen Länder, auch Luxemburg, sehr unterschiedliche Ausgangspunkte haben. Wir befinden uns demnach nicht in einem anormalen Prozess, sondern müssen die einzelnen Standpunkte untereinander abwägen, um unter französischem Vorsitz abzuschließen.

Für zusätzlichen Schub sollte der Bericht von Javier Solana sorgen, der den direkten Zusammenhang zwischen der Klimafrage, der Flüchtlingsproblematik und der Sicherheitspolitik herstellt.

Davon gehe ich aus. Javier Solana wird nochmals aufzeichnen, welche Menschen und Regionen am meisten unter den Klimaveränderungen zu leiden haben und welches der Preis für Nichthandeln sein wird. Vor allem die Armen werden darunter zu leiden haben. Hinzu kommt, dass der Sicherheitsaspekt des Klimaschutzes oft unterschätzt wird.

Von der Lissabon-Strategie zu den Lissaboner Verträgen: Wird der laufende Ratifizierungsprozess ebenfalls Thema sein?

Wir werden sicherlich eine Zwischenbilanz des Ratifizierungsprozesses ziehen. Was noch ausstehende Ratifizierungen angeht, müssen wir den irischen Sonderfall im Auge behalten. Das Resultat des Referendums wird mit Sicherheit kein Selbstläufer.

Einmal mehr dürfte die Besetzung des Präsidentenpostens des Europäischen Rates Schlagzeilen machen. Sie gehören zu den heiß gehandelten Kandidaten. Wie wollen Sie sich verhalten?

Sollte es eine Diskussion geben, will ich diese Debatte auf den Aufgabenzuschnitt des Präsidenten beschränken. Was meine persönliche Zukunft angeht, so habe ich bereits oftmals erklärt, dass ich lieber in Luxemburg bleibe. Dennoch muss ich zu gegebenem Moment in Betracht ziehen, inwieweit mein europäisches Engagement dem Land dienlich sein kann.

Letzte Frage: Am 19. März feiert das Europäische Parlament 50. Geburtstag. Stehen die Parlamentarier nicht zu oft im politisch-medialen Schatten der Chefs? 

Das Europäische Parlament ist der große Gewinner der institutionellen Vertiefung der Union seit Maastricht. Doch leider kennen die Menschen es zu wenig. Ich unterstütze jede Initiative, die das Parlament den Bürgern näher bringt. 

Quelle: Wort, 13. März 2008, Ady Richard, Marc Schlammes