Perspektiven für Europa

CSV Fraktionspräsident Michel Wolter im “Soziale Fortschrëtt” über den bevorstehenden EU-Gipfel

Wenn der Abschlussgipfel der deutschen Ratspräsidentschaft vorüber ist, sollte die europäische Union wissen, wo sie hinsteuert. Vor allem, was für einen neuen Grundlagentext sie ansteuert, nachdem der Verfassungsvertrag in seiner vorliegenden Form definitiv nicht durchgesetzt werden kann. Es ist schon eigenartig: 18 Länder haben die Verfassung ratifiziert, davon zwei, Spanien und Luxemburg, durch Referendum, lediglich zwei Staaten haben die Ratifizierung abgelehnt – und sieben versuchen dann gar nicht erst, eine Ratifizierung hinzubekommen. Die Minderheit Europas bestimmt die Zukunft der Union.

Europa ist, wenn es um seine Grundlagen geht, noch immer eine Sache der Einstimmigkeit. Die vernünftigeren der europäischen Gestalter warnen seit Jahren davor, dass Einstimmigkeit bei 27 Unionsmitgliedern langsam ein Ding der Unmöglichkeit wird. Was mit 12 oder 15 schon nicht einfach war, ist mit 27 Staaten fast nicht mehr vorstellbar. Besonders, wenn nationale Entscheidungsträger wie in Polen, Tschechien oder auch Großbritannien ganz andere Vorstellungen über Sinn und Zweck der Union haben, als man sie in den Gründerländern oder in der Euro-Zone findet.

Nun werden sich die Staats- und Regierungschefs auf einen Weg einigen müssen, um zu einem neuen Text zu kommen. Dass dieser Text nicht mehr Verfassung oder Verfassungsvertrag heißen wird, ist sicher – obwohl zu beweisen bliebe, dass die Menschen in Europa sich so sehr an diesem Begriff stören. Es ist nicht wesentlich, ob der Text schließlich Verfassung oder Grundlagenvertrag heißen wird. Wesentlich ist, dass er inhaltlich nicht weit hinter die großen Errungenschaften des Verfassungskonvents zurückfällt. Konkret: die dringend benötigten institutionellen Reformen und die Grundrechtecharta dürfen nicht zur Disposition stehen!

Beide Elemente wurden von einem Konvent ausgearbeitet. Diese Methode ist nicht nur innovativ, sondern sie gewährleistet gegenüber reinen Regierungskonferenzen ein erhebliches Mehr an Transparenz und Nachvollziehbarkeit. Man kann nicht den Vertretern von 28 nationalen Regierungen und Parlamenten, des europäischen Parlaments und der europäischen Kommission sagen, dass sie zwar vor Jahren einige gute Ideen hatten, heute jedoch davon nicht viel praktische Umsetzung finden kann. Also müssen Ansätze wie der gewählte Ratspräsident, der europäische Außenminister, die doppelte Mehrheit und überhaupt die Verallgemeinerung der mehrheitlichen Beschlussfassung auch in einem neuen Text vorkommen. Nur so bleibt die Union in ihrer erweiterten Form funktions- und entscheidungsfähig.

CSV und LCGB haben in der Referendumskampagne vor zwei Jahren Seite an Seite für ein JA gekämpft. Christliche Gewerkschaftler und christlich soziale Politiker waren und sind sich ihrer Verantwortung für Europa bewusst. Sie sind auch, und vor allem, überzeugte Europäer. Deswegen werden wir nicht akzeptieren, dass das 2005 erreichte – 56,5 Prozent Zustimmung zur europäischen Verfassung im luxemburgischen Volk – nun zunichte gemacht wird. Das JA von 18 Mitgliedsstaaten kann nicht weniger wert sein als zwei NEIN und sieben Unentschieden. Europa braucht einen anspruchsvollen Grundlagenvertrag. Das müssen auch diejenigen einsehen, die ihn nicht Verfassung nennen wollen und sich an europäischer Symbolik stören.

Michel Wolter, CSV Fraktionspräsident

Soziale Fortschrëtt, Juni 2007 // www.lcgb.lu