“Ansporn auf der Zielgeraden” Premierminister Jean-Claude Juncker über den Karlspreis
Rheinischer Merkur: Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung mit dem Karlspreis, dieser wichtigsten aller europäischen Ehrungen?
Jean-Claude Juncker: Ich empfinde diese Auszeichnung nicht nur als Anerkennung einer europapolitischen Leistung, sondern auch als verbriefte Anerkennung, meine Politik fortzusetzen. Der Preis ist somit weder Abschluss noch Wendepunkt, sondern Ansporn auf der Zielgeraden. Und im Übrigen bin ich stolz.
Gibt es ein Erlebnis, das Sie als europäischer Politiker besonders geprägt hat?
Jean-Claude Juncker: 1997 hat der Europäische Rat unter meinem Vorsitz die Erweiterung der EU nach Ost- und Mitteleuropa beschlossen. Beim Mittagessen habe ich die Regierungschefs der Kandidatenländer gefragt, wo sie am selben Tag zehn Jahre zuvor gewesen seien. Sechs von zehn saßen im Gefängnis. Da habe ich erwachsene Männer am Tisch weinen sehen: Kohl und Chirac beispielweise. Wenn ich heute stupide Sätze über die Erweiterung höre, die manche vom Stapel lassen, macht mich das traurig.
Wie ist Ihr Interesse an europäischen Themen entstanden?
Jean-Claude Juncker: Mein Vater war als christlicher Gewerkschafter in den Gremien der Montanunion tätig, sodass ich schon als Kind jeden Tag europäische Post im Hause fand. Das habe ich regelrecht aufgesogen. Ich habe natürlich nicht alles verstanden, spürte aber irgendwo in meinem kindlichen Wesen, dass da etwas Wichtiges passiert. Meine Mutter hat angesichts des Papierkrams manchmal die Augen verdreht. Mein Vater hat dann geantwortet: “Das ist nicht so schlimm, wie es in meiner Jugend war. Da haben wir aufeinander geschossen.” Das ist mir hängen geblieben.
Sie sind in der Nachkriegszeit aufgewachsen…
Jean-Claude Juncker: … aber entgegen dem, was man denken möchte, fängt die Geschichte nicht mit einem selbst an. Man steht in der Tradition Tausender Biografien, die sich addieren. Man trägt so etwas in sich wie nationale Schicksalsverlängerung. Wenn ich über Europa nachdenke, kann ich die Kriegserfahrung meines Vaters nicht einfach verjagen.
Ahistorisches Denken
Taugen Krieg und Frieden heute noch, um Europa den Menschen näher zu bringen?
Jean-Claude Juncker: Krieg und Frieden werden oft ausgeblendet, und ich frage mich, wo dieses ahistorische Denken eigentlich herkommt. Es hat in den neunziger Jahren auf dem Balkan der erste Krieg in Europa seit 1945 stattgefunden, und wir haben es schon wieder vergessen. Meine Befürchtung nach den massiven Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa mit mehr als dreißig neuen Staaten an der Peripherie der EU war, dass überschwappender Nationalismus, ungeregelte Minderheitsfragen, das Gefühl der Orientierungslosigkeit wieder zu schlimmen Verwerfungen führen. Nur die EU-Erweiterung konnte dieses Chaos in ordnende Bahnen lenken.
Das jüngste Eurobarometer zeigt große Skepsis gegenüber der Erweiterung – gerade in den alten Mitgliedsstaaten.
Jean-Claude Juncker: Wir feiern im nächsten Jahr den 50. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge. In den ersten drei Jahrzehnten danach wollten alle mehr Europa. Da war auch die Kriegserfahrung noch sehr präsent. Jetzt will die Hälfte unserer Bevölkerung immer noch mehr Europa, während die andere sagt, wir hätten schon zu viel davon. Dieses Gefühl des Zuviel hat es in dumpfer Form schon lange gegeben, aber wie es sich heute Bahn bricht, ist neu. Das erklärt auch die Orientierungslosigkeit der Politiker: Fast alle spüren, wo man noch mehr Europa brauchte, trauen sich aber nicht, daraus ein politisches Programm zu machen.
Fehlt es an Führungsfiguren?
Jean-Claude Juncker: Man macht Probleme immer an der Verantwortung von Einzelnen fest. Die Schule, heißt es, sei nicht mehr so gut, weil die Lehrer nicht mehr sind, wie sie einmal waren. Über die Politik sagt man Ähnliches. Nur: Auch die Klassenzimmer sind nicht mehr so, wie sie einmal waren.
Ein Mangel an Visionen?
Jean-Claude Juncker: Wer das alltägliche Europa gestalten muss, wer Regeln für den Euro und den Binnenmarkt finden muss, der kommt sich nicht mehr vor wie ein Architekt, der an einem großen Zukunftsprojekt arbeitet. Sondern eher wie ein Handwerker, der sich abmüht, dessen Werkzeugkasten in Ordnung ist und der nicht immer die richtigen Schrauben findet. Europa lässt uns heute schwitzen und hat uns früher träumen lassen. Man kann sich nicht in den Binnenmarkt verlieben oder in den Euro. Wir haben die postpubertäre Begeisterung verloren und sind im Erwachsenenalter angekommen, aber von der Reife sind wir noch weit entfernt.
Gibt es ein neues europäisches Projekt, das wieder Emotionen bündeln könnte?
Jean-Claude Juncker: Ich bin verzweifelt darüber, dass wir die unwahrscheinlichen Leistungen der Europäischen Union nicht mehr als Resultat des gebündelten kontinentalen Willens empfinden. Dass die Europäer heute über eine einheitliche Währung verfügen, ruft immer noch die Bewunderung anderer Kontinente hervor, während es uns überhaupt nicht stolz macht. Genauso verhält es sich mit der EU-Erweiterung. Man muss sich ja nur einmal vorstellen, wo wir heute ohne Euro und ohne Erweiterung stünden! Dass wir dieses nicht vermitteln können, ist ein ungeheures Versagen auch der geistigen Eliten.
Wen meinen Sie damit?
Jean-Claude Juncker: Ich vermisse das aufklärende Wort der Künstler, der Schriftsteller, der Philosophen. Wo sind die? Wieso hat sich die geistige Elite fast völlig aus der europapolitischen Zukunftsdebatte zurückgezogen? Wieso überlässt man eigentlich essenzielle Zukunftsfragen der Politik? Politik kann doch nicht für alle mitdenken, Politik braucht die intellektuelle Nahrung, die sich aus den Überlegungen derer ergibt, die sich fernab der Politik mit denselben Themen beschäftigen.
EU-Verfassung: Denkpause fortsetzen
Was wird aus der EU-Verfassung?
Jean-Claude Juncker: Ich habe vor einem Jahr unter luxemburgischer Präsidentschaft nach dem Nein aus Frankreich und den Niederlanden eine Denkpause empfohlen. Ich finde es schon relativ vermessen, eine Denkpause zu dekretieren. Ich finde es aber noch viel vermessener, diese Denkpause abzubrechen. Man sollte keine voreiligen, sondern immer nur vorläufige Schlüsse ziehen und der Debatte Chance auf Vertiefung und Erweiterung geben.
Ist es denn überhaupt vorstellbar, dass der Text noch verändert wird? Oder geht es nur darum, wie der Entwurf über die Ratifikationshürden kommt?
Jean-Claude Juncker: Wenn ich mir sicher wäre, dass es nur noch um das Wie ginge, würde ich mich intensiver darum kümmern. Die Finnen werden in den nächsten Wochen ratifizieren, dann sind wir 16 Jasager. Und wir haben zwei Neinsager. Die 16 müssen lernen, auf die zwei zu hören. Aber die Neinsager müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass 16 zugestimmt haben. Das ist noch zwingender. Es kann ja nicht so sein, dass sich alle bewegen, nur die Franzosen und die Holländer nicht. Nein, sie müssen sich auf die gemeinsame Substanz zu bewegen. Dafür brauchen wir eine verlängerte Denkpause.
Sie halten am Entwurf fest?
Jean-Claude Juncker: Ich halte an der Verfassungsperspektive fest, mit der Einschränkung, dass ich diesen Vertrag nie Verfassung nennen würde. Der Begriff Verfassung hat nationale Färbung für die Menschen. Nationalstaaten sind verfasst, die Europäische Union aber ist kein Staat.
Sonst keine Änderungswünsche?
Jean-Claude Juncker: Ich würde überhaupt nichts ändern. Ich würde aber gerne verständliche Materialien zum Vertrag veröffentlicht sehen, zur europäischen Sozialpolitik, zur Außen- und Sicherheitspolitik. Was wollen wir in der Welt bewirken? Brauchen wir eine europäische Armee oder nicht? Was heißt Subsidiarität? Der Vertragsentwurf gibt tolle Antworten, aber wir geben keine Beispiele. Deswegen empfinden viele Bürger, die darüber abstimmen sollen, ihn als theoretisch und unverständlich.
Was halten Sie von dem Vorschlag, die Verfassung zu entschlacken und nur die ersten beiden Teile zu Zielen, Institutionen und Grundrechten zur Abstimmung zu stellen?
Jean-Claude Juncker: Der dritte Teil des Vertrags mit den Einzelbestimmungen ist gewachsenes europäisches Recht. Ich habe nie begriffen, warum dieser Teil überhaupt in den Textentwurf gehört. Den hätte man über die Parlamente ratifizieren sollen. Aber: Wenn man jetzt nur den ersten und zweiten Teil zum Referendum vorlegt, muss man erhebliche Textänderungen vornehmen wegen der vielen bestehenden Querverweise. Ich könnte damit leben.
Wenn nicht alle Staaten zustimmen, müssen vielleicht einige vorangehen und die Integration im kleineren Kreis voranbringen.
Jean-Claude Juncker: Ich bin gegen Kerneuropa als Ziel, aber für Kerneuropa als Mittel zum Zweck. Wir sollten immer versuchen, europäische Politik mit allen Mitgliedsstaaten zu gestalten. Wenn einige und immer wieder dieselben sich dem Europa-Zug nicht anschließen können, wird man eines Tages nicht an der Kernfrage vorbeikommen. Gleichwohl müsste jede Kerntruppe für Spätberufene offen sein.
Ist ein Kerneuropa ohne Frankreich und die Niederlande vorstellbar?
Jean-Claude Juncker: Das ist die Frage, die ich meinem belgischen Freund und Kollegen Guy Verhofstadt andauernd stelle: Wie soll ein Kerneuropa um die Euro-Gruppe herum funktionieren mit Frankreich und den Niederlanden, die sich der Verfassung verweigert haben? Wer denkt, man könne weiterführende europäische Ziele ohne Frankreich umsetzen, irrt sich gewaltig. Wer ohne einen dicken französischen Zeh aufs europäische Gaspedal tritt, der bringt den Wagen aus der Kurve.
Es richten sich große Hoffnungen auf die deutsche Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 – zu große?
Jean-Claude Juncker: Es gehört zu den glücklichen Fügungen europäischer Nachkriegsgeschichte, dass alle deutschen Bundeskanzler – auch jene mit Startschwierigkeiten – immer europäische Kanzler waren. Frau Merkel hat gewachsene europäische Überzeugungen. Sie wird versuchen, den Verfassungsvertrag auf die Beine zu helfen. Wegen der französischen Präsidenten- und Parlamentswahl und der niederländischen Parlamentswahl bleibt der deutschen Präsidentschaft aber nur ein Zeitfenster von sechs Wochen. Vor den Wahlen muss die deutsche Politik aber mit allen reden, die an der Willensbildung in den Ländern teilnehmen.
Wie soll es mit der Erweiterung weitergehen?
Jean-Claude Juncker: Kroatien, mit dem wir schon verhandeln, gehört ohne jeden Zweifel zur europäischen Familie. Weitere Beitritte sehe ich erst in einer ferneren Epoche. Wir sollten die europäische Denkpause auch nutzen, über eine Mitgliedschaft in der EU nachzudenken, die nicht unbedingt eine Vollmitgliedschaft ist. Man kann sich nicht vorstellen, dass eine EU mit etwa 30 Mitgliedern ohne neuen Verfassungsvertrag funktionieren würde. Deshalb sollten wir überlegen, ob wir um den europäischen Kern eine Bahn ziehen für jene, die entweder nicht die Kraft zur Vollmitgliedschaft haben oder die die Absorptionsfähigkeit der EU übersteigen. Das wäre auch eine Lösung für jene heutigen Mitgliedsstaaten, die sich erkennbar nicht wohl fühlen im europäischen Solidaritätskorsett.
Zum Schluss: In Aachen wird Helmut Kohl die Laudatio auf Sie halten. Was bedeutet Ihnen das?
Jean-Claude Juncker: Sehr viel, denn Kohl zählt für mich zu den großen Figuren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich habe oft erlebt, dass er zwischen längerfristigen europäischen und kurzfristigen deutschen Interessen zu entscheiden hatte. Er hat immer den europäischen Interessen Vorfahrt gegeben. Dafür wurde er zu Hause oft gescholten. Aber das war ihm egal, weil er daran glaubte, dass die Entscheidung für Europa längerfristig auch die beste für Deutschland war. Außerdem hatte er immer ein feines Gespür für die Sorgen und Nöte kleiner Staaten. Kohl wusste, dass Deutschland mit den meisten Nachbarn in der Mitte Europas nur glücklich werden kann, wenn es von den anderen gemocht wird.
Quelle: Rheinischer Merkur, 18. Mai 2006