Im Interview mit der SZ plädiert Premierminister Juncker für eine Verlängerung der Denkpause über die EU-Verfassung, weil die Mehrheit “nicht mehr Europa” wolle
Jean-Claude Juncker, 51, ist der am längsten amtierende Regierungschef der Europäischen Union. Seit 1995 führt er als Premierminister die Geschicke Luxemburgs. In den letzten Jahren hat er in der Europapolitik große Autorität gewonnen, nachdem er sich während der luxemburgischen Präsidentschaft als Vermittler hervorgetan hatte. Juncker erhält nächste Woche den renommierten Karlspreis der Stadt Aachen.
SZ: Herr Ministerpräsident, “denk ich an Europa in der Nacht, dann …
Jean-Claude Juncker:… werd’ ich hellwach.”
Weil Sie Albträume plagen?
Kein Albtraum. Ich bin im Gegenteil hoch motiviert, den schlechten Zustand Europas beenden zu helfen. Ich hoffe, dass wir im Jahr 2009/2010 die irrationalen Hemmnisse beiseite räumen.
Wieso erst dann?
Früher wird es nicht möglich sein, selbst dieses Datum ist optimistisch. Die Denkpause, die wir uns verordnet haben und die im Juni zu Ende geht, muss weitergehen. In dieser Zeit müssen wir uns viel konkreter mit dem Europa der Ergebnisse beschäftigen. Wir müssen den Menschen zeigen, wie nützlich der Euro ist, wie Europa internationale Kriminalität und den Terrorismus bekämpfen kann. Wir müssen zeigen, dass Europa nicht nur eine Macht ist, die nach eigenen, von den Menschen entfernten Regeln funktioniert. Sondern dass der soziale Anspruch sich auch in europäischer Politik widerspiegelt.
Gewaltige Leistungen
Diese Phase erinnert doch sehr an die Eurosklerose der 80er Jahre.
Nein, das ist nicht vergleichbar. Wir haben den Menschen seit Mitte der 80er Jahre sehr viel zugemutet. Der Binnenmarkt hat viele lieb gewonnene Gewohnheiten über den Haufen geworfen. Die Harmonisierung der Mehrwertsteuer, die Wirtschafts- und Währungsunion, die Einführung des Euro gegen große Widerstände. Sechs von acht Staaten Mittel- und Osteuropas, die wir am l. Mai 2004 aufgenommen haben, existierten vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion überhaupt nicht. Das sind gewaltige Leistungen.
Die heute nur Sorgen auslösen
Bleiben wir erstmal bei den Erfolgen. Wir haben den Vertrag von Maastricht geschlossen, den von Amsterdam, und nach dem verunglückten Vertrag von Nizza haben wir eine Verfassungsdebatte begonnen. Wenn man noch den ersten europäischen Krieg nach 1945, den Krieg auf dem Balkan, hinzufügt, dann sieht man, mit welcher Gewalt, mit welchem fast verrückten Rhythmus in den letzten 20 Jahren Geschichte gemacht wurde. Das hat zu einer Spaltung der öffentlichen Meinung
geführt. Die eine Hälfte will mehr Europa, die andere will weniger. Da wundert man sich eigentlich nicht, dass Europa Verdauungsschwierigkeiten hat.
Sie sind der am längsten amtierende Regierungschef in der EU. Können Sie sich an eine Zeit ähnlicher Erschöpfung erinnern?
Ja, auf dem Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion gab es diese Erschöpfung, wo viele dachten, das ist gar nicht zu schaffen. Es gab aber auch Begeisterung. Heute ist das anders. Heute gibt es mehr Erschöpfung als Begeisterung.
So ist diese Krise also ernster als die vorherigen?
Ich glaube, dass die Krise deshalb ernst ist, weil die Europäer sich mehrheitlich nicht mehr aus Menschen zusammensetzen, die mehr Europa wollen. Außerdem erklären wir nicht mehr, was wir gemacht haben. Wir haben es unterlassen, den Menschen die historische und ökonomische Notwendigkeit der Erweiterung zu erklären, weil wir uns in dem Gefühl wähnten, das breite europäische Wir-Gefühl der 90er Jahre hätte überlebt. Wir erklären nie, was passiert wäre, wenn wir es nicht geschafft hätten.
Warum mussten manche Regierungschefs – auch Sie in Luxemburg – den komplizierten Ver fassungsvertrag einem öffentlichen Votum aussetzen?
Man muss die Völker Europas befragen, wenn etwas wichtig ist. Dann will die eine Hälfte der Europäer eben mehr Europa, die andere will weniger. Die Politik schafft es nicht, eine Brücke zwischen diesen beiden Befindlichkeiten zu schlagen.
Kann Europa aus sich selbst heraus die Brücke bauen? Oder braucht es den Druck von außen?
Wer zu viel Europa empfindet, der kann seine Ablehnung in der Regel nicht im Detail begründen. Das ist eher ein dumpfes Gefühl. Jene wiederum, die mehr Europa wollen, sind sich überhaupt nicht darüber einig, wie denn dieses Europa aussehen soll. Deshalb sollte man die Reflexionsphase reifen lassen. Alles ist zu frisch. Vielleicht brauchen wir ja auch neue Ziele, die über den Verfassungstext hinaus gehen. Eine europäische Armee zum Beispiel.
Dabei gibt es doch hinreichend äußeren Druck: das gewaltige Wachstum Asiens, den Streit um die Energiequellen, die Hyperpotenz Amerikas. Europa ist auf all diesen Bühnen kein Akteur mehr. Besorgt Sie das?
Wir sollten unterscheiden zwischen Verfassungsfragen und dem, was ein Europa tatsächlich leisten kann. Beispiel Energie: Eine moderne Außenpolitik ohne Energiedimension gibt es nicht. Wie verfahren wir mit Russland? Wie regeln wir unser Verhältnis zu den Golfstaaten? Iran oder Afrika verlangen nach mehr europäischem Engagement. Da machen wir zu wenig, aber wir könnten mit der Verfassung besser sein.
Ihr belgischer Kollege Guy Verhofstadt will ein Kerneuropa, falls keine Vereinigten Staaten von Europa zustande kommen. Können Sie dem folgen?
Ich möchte, aber ich kann nicht. Alles, was wir in Europa tun, sollten wir mit allen Mitgliedstaaten tun. Erst wenn dieser Versuch immer wieder scheitert, sollten wir uns Kerneuropa zuwenden. Aber nicht als Konzept eines westeuropäischen, finalen Europas.
In der Geschichte der EU haben immer wieder Personen und Personenkonstellationen eine zentrale Rolle gespielt. Helmut Schmidt und Giscard d’Estaing, Helmut Kohl und Francois Mitterrand. Heute hat man den Eindruck, es gibt diese Art von Personal nicht mehr.
Vielleicht gibt es dieses Personal virtuell, aber sie können nicht zusammenfinden.
Virtuell?
Wir haben eine proeuropäische deutsche Bundeskanzlerin. Aber mit welchem Regierungschef aus welchem großen Land soll sie denn jetzt den Verfassungskarren ziehen? Die Franzosen haben Nein gesagt, und mit den Briten lässt sich das nicht machen. Das heißt: Die deutsche-französische Zusammenarbeit, der Europa viel verdankt und ohne die Europa nicht in Bewegung zu halten ist, kann keine Führung übernehmen.
Wäre es mit starker Führung überhaupt getan?
Nein. Es haben immerhin zwei Gründerstaaten Nein gesagt zur Verfassung. Und wenn in dem dritten, in Luxemburg, 44 Prozent mit Nein stimmen, dann hat Europa ein Darstellungsproblem. Deswegen muss man sich brutal eingestehen, dass die Zugpferde nicht mehr so gut ziehen.
Krieg und Frieden -zentrales europäisches Thema
Bleiben Deutschland und Frankreich trotzdem das Zentrum der europäischen Entwicklung?
Sehr dezidiert: Ohne die deutsch-französische Freundschaft wird es keine weiteren integrationspolitischen Schritte geben. Wer allzu schnell Geschichte vergisst, der wird keine machen. Die Deutschen und die Franzosen wissen aber auch sehr genau, dass sie alleine die Zugkraft nicht entfalten können. Viele kleinere Staaten in der Union mögen es überhaupt nicht, wenn Deutsche und Franzosen so tun, als ob sie den Ton angeben.
Müssten sich unter inzwischen 25 Mitgliedern nicht neue Gravitationszentren bilden?
Es kann sich kein neues Gravitationszentrum bilden, weil die, die es hätten bilden wollen, schnell gemerkt haben, dass es weniger Zugkraft haben würde als das deutsch-französische.
Die Verfassung ist zunächst gescheitert, die Großerweiterung wird als Last empfunden, es gibt keine nationale Führung – ist die Zeit gekommen, jenseits von Erweiterung und Vertiefung frische Ideen für das Zusammenleben in Europa zu entwickeln?
Ich bin es inzwischen leid, dass man auf jede Frage eine Antwort hat. Ich weiß das ganz einfach nicht. Ich stelle nur fest, dass wir es mit dem jetzigen Werkzeugkasten nicht geschafft haben, den europäischen Wagen am Laufen zu halten. Nicht nur die Politik, auch die Menschen sind relativ zukunftsfaul geworden. Wir laufen Gefahr, eines Tages einen schrecklichen Preis zahlen zu müssen. Deshalb bin ich über die europäische Zukunft zutiefst besorgt.
Drei Gründe, warum man jetzt handeln muss?
Krieg und Frieden ist immer ein zentrales europäisches Thema. Wir dürfen nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen. Zweitens brauchen wir mehr Europa, weil in der Globalisierung kein Nationalstaat mehr ausreichend starke Muskeln hat. Und zum Dritten sind die modernen Bedrohungen wie internationales Verbrechen, Terrorismus oder Umweltzerstörung von Nationalstaaten gar nicht mehr zu bewältigen.
Wie lautet die Überschrift für die kommenden zehn Jahre in der Europapolitik?
Europa kann Geschichte machen, anstatt von der Geschichte bewegt zu werden. Nachdem die Welt zu Europa gefunden hat, muss Europa auch wieder zu sich selbst finden, sich mehr auf Gemeinsames besinnen als auf Trennendes. Während der Referenden hat sich gezeigt, dass die Menschen wieder mehr Gefallen am Trennenden gefunden haben, jeder möchte wieder wer sein. Vor Jahrzehnten wollten wir alle gemeinsam etwas werden. Dorthin müssen wir wieder kommen.
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 17. Mai 2006 Interview: Stefan Kornelius Martin Winter