Preis der Macht und Suche nach Identität

Die 1976 in Luxemburg gegründete Europäische Volkspartei feierte dieser Tage ihren 30. Geburtstag in Rom. Aus der rein christlich-demokratischen Parteienföderation ist eine Mitte-rechts-Partei geworden. Von Ady Richard
Der französische Innenminister Nicolas Sarkozy sieht die Zukunft der EVP in einer “UMP à l’européenne”. EVP-Chef Wilfried Martens sieht hingegen das christliche Menschenbild als Fundament. Seine Vorgänger Leo Tindemans, Piet Bukman und Jacques Santer ziehen trotz “konservativer Frage” eine positive Bilanz, warnen jedoch auch – wie EVP-Historiker Thomas Jansen – vor einer Aufgabe des christlich-demokratischen Kerns. Premier Jean-Claude Juncker lehnte in Rom eine EVP mit einer rein nichtsozialistischen Identität ab.

Ein bisschen dachte man Anfang April in Rom beim Kongress zum 30. Geburtstag der Europäischen Volkspartei schon an Goethes Zauberlehrling: “Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los.” Vielleicht ist es Helmut Kohl genauso gegangen, als er entschieden hat, nicht an den Tiber zu kommen, um Berlusconi keine Wahlkampfhilfe geben zu müssen. Dabei wurde die EVP nicht zuletzt auf den Druck der CDU Deutschlands unter Kohl hin erweitert. Und in großen Teilen auch wirtschaftsliberaler und strukturkonservativer. Forza Italia und der Cavaliere sind hierfür Paradebeispiele. Da mag Giulio Andreotti immer noch an ein großes christdemokratisches Zentrum glauben.

“Euro-Droite”

Die politische Gegenwart und Zukunft scheint jedenfalls in eine andere Richtung zu laufen. Die in Rom viel applaudierte Rede des französischen UMP-Chefs Nicolas Sarkozy zeigt weiter in Richtung Bipolarismus und “Euro-Droite”. Auch wenn der in Rom bestätigte EVP-Präsident Wilfried Martens, der seit 1990 die Mitte-rechts-Partei führt, dies als “französische Semantik” abtut. Sarkozy baute einen Rhetoriktunnel auf: “Wenn wir zwischen Liberalismus und Sozialismus zu wählen haben, wählen wir den Liberalismus.” Von Zentrumspartei oder Personalismus oder christlicher Soziallehre war keine Rede mehr. Auch nicht vom Geist eines Georges Bidault, der die christliche Demokratie einmal wie folgt leicht karikaturhaft darstellte: “siéger au centre et faire avec des électeurs de droite une politique de gauche”. Sarkozy – Bayrous UDF hat die EVP längst verlassen – versuchte nicht einmal den Anschein von Christdemokratie zu wahren.

Martens hält dagegen am christlichen Menschenbild, am Personalismus und an der christlichen Soziallehre als Konsens fest. Zumindest rhetorisch. Politik, Programmatik und Rhetorik der EVP-Mitgliedsparteien sind oft eine andere. “Das ideologische Zeitalter ist zu Ende gegangen. Die Entwicklung von Volksparteien unter weitgehend entideologisierten Vorzeichen steht auf der Tagesordnung”, stellt Vordenker Thomas Jansen, EVP-Generalsekretär von 1983 bis 1994, in seinem für Rom neu aufgelegten Buch “Die Europäische Volkspartei – Entstehung und Entwicklung” fest. Jansen teilt die Martens-These von der wichtigen Rolle der Christdemokraten bei der Schaffung einer europäischen Parteienlandschaft.

Eindrucksvoll zeichnet der ehemalige Parteimanager die Entstehung der EVP aus der christlichen Soziallehre, dem französischen Personalismus und den “Nouvelles équipes internationales” (NEI) nach dem Zweiten Weltkrieg nach. Dabei war “die Europäische Union als erster Schritt zu einer geeinten Welt” ein “Grundmotiv der NEI”. Die NEI wandelten sich 1965 in die Europäische Union Christlicher Demokraten (EUCD) um.

“Eigentlicher Auslöser für die Gründung der EVP war dann aber die erste Direktwahl des Europäischen Parlaments 1978. Wir brauchten als Christdemokraten eine Partei”, erinnert sich der Gründungspräsident und ehemalige belgische Premier Leo Tindemans (EVP-Chef von 1976-1985). Der Name kam aus Bonn. Formell gegründet wurde die Partei am 8. Juli 1976 in Luxemburg mit der CSV als Gründungsmitglied. “Die dominierenden Kräfte waren die CDU und die italienische Democrazia Cristiana”, so Tindemans.

Die Öffnung hin zu konservativ-liberalen Parteien ist seit 1973, dem Beitritt Großbritanniens zur EG, ein Preis, den die Christdemokraten zahlen, um die stärkste politische Partei in Europa zu bleiben. Jansen nennt dies die “konservative Frage”.

Spätestens seit Max Weber ist jedem Politiker bewusst, dass Machterhalt nur selten ohne unheilige Allianzen möglich ist. Hinzu kommt die rasante Erweiterung von EG und EU. Auch die Entwicklung der EVP lässt sich in diesem Licht sehen. “Wir mussten uns ja immer wieder auf die jeweiligen politischen Gemengelagen in den neuen Mitgliedstaaten einstellen. Da gab es ehemalige Diktaturen wie Spanien etwa. Oder auch die Staaten aus dem Osten, die in ihrer Tradition keine christliche Demokratie kannten”, erklärt Jacques Santer.

Unter den EVP-Vorsitz (1987-1990) des ehemaligen Luxemburger Premiers und Kommissionspräsidenten fiel etwa die stark umstrittene Aufnahme der spanischen Partido popular im Jahr 1988. “Wir haben diese Strategie der Öffnung in Luxemburg im Staatsministerium beschlossen”, erinnert sich Santer. Die von Kohl durchgesetzte Strategie wurde 1991 von der Konferenz der Partei- und Regierungschefs der EVP festgestellt. Nach der PP folgte dann die Annäherung der britischen und skandinavischen Konservativen. Die “rasante Entwicklung” der EU von 1995 bis 2005 habe die EVP mitgestaltet und sie “ist ihrerseits in ihrer eigenen Entwicklung nachhaltig von ihr geprägt worden”, so Jansen weiter. Die konservative EVP-Erweiterung machte so – nach der EUCD – auch die konservative Europäische Demokratische Union (EDU) “überflüssig” (Jansen).

“Nicht immer die reine Lehre”

Dennoch fällt die Gesamtbilanz der vier EVP-Präsidenten nuanciert positiv aus: “Insgesamt ist die EVP aber bei ihren Werten geblieben. Auch wenn es nicht immer die reine Lehre war”, so Santer. Auch der dritte EVP-Präsident Piet Bukman (1985-1987) von der niederländischen CDA bestätigt dies. “Die Gründung der EVP war schon eine einmalige Sache. Sie war eine Notwendigkeit und eine Vision eines politischen Europas”, meint Leo Tindemans. Auch wenn es am Anfang viele praktische und finanzielle Probleme gegeben habe.

Der Preis der Macht, der Preis für die “mit Abstand stärkste Fraktion im Europäischen Parlament” (EVP-Fraktionschef Hans-Gert Pöttering) ist hoch. Für viele in und außerhalb der EVP ist er zu hoch. Offen sagte lediglich Premier Jean-Claude Juncker in Rom: “Wir sind mehr als nicht nur keine Sozialisten.” “Wir stehen weiter im Zentrum. Unser Programm bleibt personalistisch”, verkündet Martens. “Die Partei darf ihre Substanz und ihre Seele nicht aufgeben”, mahnt Tindemans. Immer wieder wird dabei das Athener Grundsatzprogramm von 1992 zitiert.

Doch politische Dynamik und Praxis weisen in eine andere Richtung: “Der Annäherung zwischen den Konservativen und den Christlichen Demokraten liegen historische Entwicklungen zugrunde. (…) Die EVP konnte sich deshalb der Auseinandersetzung über diese Frage, die sie seit ihrer Gründung begleitet hatte, nicht entziehen.” Allerdings gibt es auch den von EVP-Christdemokraten und SPE-Sozialdemokraten durchgesetzten Kompromiss zur Bolkestein-Richtlinie im Europaparlament. “Dies kann man durchaus als eine Art große Zentrumskoalition im EP sehen”, sagt ein hoher EVP-Vertreter. “Und dies entspricht auch der Sehnsucht der Menschen”, gesteht auch Pöttering. Andreotti könnte doch noch Recht behalten. Bolkestein und Italien haben erneut gezeigt, dass Wahlen im Zentrum gewonnen werden. Strategisch und programmatisch.

“Die Berufung der Europäischen Volkspartei besteht nach meinem Verständnis in einem doppelten Auftrag: sie muss einerseits durch die Zusammenfassung gleich gesinnter Kräfte zur Einigung Europas beitragen, und andererseits politisch und kulturell den Werten und Visionen der Christlichen Demokratie zum Durchbruch verhelfen. (…) Weder darf die EVP, aus welchen Gründen auch immer, auf ihre europäisch-föderalistische Zielsetzung verzichten, noch darf sie jemals ihren Ehrgeiz aufgeben, im Kern christlich-demokratisch zu sein”, fordert Thomas Jansen. Sowohl die föderalistische Zielsetzung als auch die Bewahrung des christlich-demokratischen Kerns werden die EVP auch in den kommenden Jahren beschäftigen. “Ich blicke mit Zuversicht in die Zukunft. Unsere Werte werden weiter überzeugen”, sagt ein optimistischer Leo Tindemans nach 30 Jahren. Von einer “UMP à l’européenne” spricht er nicht.

Quelle: Wort, 14. April 2006. Autor Ady Richard