Streit um die Finanzperspektiven der Europäischen Union: Vorsichtiger Optimismus im Vorfeld des EU-Gipfels- Der Regierungschef im Wort-Interview
d’Wort: Kann sich die EU in ihrer aktuellen Verfassung beim anstehenden Gipfel einen weiteren Rückschlag leisten?
Im Juni konnte über den Luxemburger Kompromissvorschlag zur Finanzplanung kein Einverständnis erzielt werden. Die EU hat sich tiefer in der Krise verstrickt. Soll dieser Zustand aufgebrochen werden, ist es imperativ, dass es am Donnerstag und Freitag zu einem Einverständnis über die finanzielle Vorausschau für die Jahre 2007 bis 2013 kommt.
d’Wort: Worin unterscheidet sich der bisherige britische vom gescheiterten Luxemburger Vorschlag?
Der bisherige britische Vorschlag weist im Vergleich zu unserem Vorschlag vom Juni zwei Unterschiede auf: Die neuen EU-Länder sollen über 12 Milliarden Euro oder 8,5 Prozent weniger bekommen und der zukunftsorientierte Teil der Agrarpolitik soll um zehn Milliarden Euro gekürzt werden. Im Wesentlichen wird der Luxemburger Vorschlag beibehalten.
d’Wort: Was ist gegen die britischen Modifikationen einzuwenden?
Es ist nicht akzeptabel, das Haushaltsvolumen von den 871 Milliarden Euro des luxemburgischen Kompromissvorschlags auf die im derzeitigen britischen Entwurf enthaltenen 846 Milliarden Euro zurückzufahren und dabei die Absenkung durch Kürzungen der Kohäsionsmittel für die neuen EU-Länder und Einsparungen beim zukunftsorientierten Teil der Agrarpolitik zu erzielen. Außerdem ist ein Endkompromiss nicht ohne weitere Zugeständnisse bei der britischen Mindereinzahlung in den EU-Haushalt möglich.
d’Wort: Warum ist Luxemburg gegen die Absenkung der Kohäsionsmittel ?
Luxemburg hat ein besonderes Interesse daran, dass die neuen EU-Länder sozial und wirtschaftlich so schnell wie möglich an das Niveau der so genannten alten Länder herangeführt werden. Auch die alten EU-Länder haben in der Vergangenheit vom Solidaritätsprinzip profitiert: Luxemburg etwa bei der Bewältigung der sozialen Kosten der Restrukturierung des Stahlsektors.
d’Wort: Die britische Präsidentschaft argumentiert, die Absorptionsfähigkeit der EU-Länder spreche gegen hoch angesetzte Kohäsionszusagen…
Die Luxemburger Ratspräsidentschaft setzte den Kohäsionsansatz zwölf Milliarden Euro höher an als der gegenwärtige britische Vorschlag. Unser Vorsitz ging davon aus, dass die neuen EU-Länder ihre Absorptionsfähigkeit über den gesamten Zeitraum von 2007 bis 2013 kontinuierlich verbessern werden, weil sie schnell mit dem Durchschnitt der 25 aufschließen wollen. Sollte diese Absorptionsfähigkeit nicht zunehmen, würden die entsprechenden Kohäsionsmittel nicht fließen.
d’Wort: Was stört Sie am Britenrabatt ?
Wir hätten gerne, dass Großbritannien, wie im Luxemburger Vorschlag vom Juni vorgesehen, sich vollständig an den Kohäsionskosten der neuen EU-Länder beteiligt.
d’Wort: Auf welchem Niveau sollte der Britenrabatt eingefroren werden?
Als Luxemburger Ratsvorsitz hatten wir ein quasi-Einfrieren des Britenrabatts auf 5,5 Milliarden Euro jährlich vorgeschlagen. Großbritannien will den Rabatt auf leicht über sechs Milliarden einfrieren. Das reicht nicht aus, um sicherzustellen, dass Großbritannien sich voll an den Kohäsionkosten in den neuen EU-Ländern beteiligt.
d’Wort: Dabei setzte sich London nachhaltig für die Erweiterung ein…
Großbritannien hat den Erweiterungsrhythmus regelrecht forciert und sollte somit auch die finanziellen Konsequenzen des Zusammenwachsens von europäischer Geographie und europäischer Geschichte vollständig mittragen.
d’Wort: Was muss passieren, damit der Gipfel nicht scheitert?
Der britische Vorschlag muss in Richtung des Luxemburger Vorschlags entwickelt werden. Wenn wir unter britischem Vorsitz keine Einigung finden, werden wir auch unter österreichischer und finnischer Präsidentschaft keinen Kompromiss finden. Die britische Regierung ist außerhalb ihrer Präsidentschaft nicht zu mehr Zugeständnissen bereit wie während der Vorsitzperiode.
d’Wort: Bewegt sich der britische EU-Ratsvorsitz?
Meine Gespräche mit dem britischen Premierminister weisen darauf hin, dass Großbritannien seinen neuen Vorschlag in Richtung des von den anderen EU-Ländern als wünschenswert angesehenem Gesamtniveau auslegen wird.
d’Wort: Warum hatte es Luxemburg bei der EU-Finanzplanung schwerer als Großbritannien?
Für Luxemburgs Ratsvorsitz war es schwerer, den Kommissionsvorschlag von 994 Milliarden Euro oder 1,21 % auf 871 Milliarden oder 1,06 % abzusenken, als die relativ marginale Aufgabe der britischen Präsidentschaft, zwischen 1,03 % und 1,06 % einen Kompromiss zu finden.
Jean-Claude Juncker im Gespräch mit den “Wort”-Redakteuren Marc Glesener und Jakub Adamowicz.
Quelle: d’Wort vom 14. Dezember 2005