Interview mit dem EU-Ratvorsitzenden Jean-Claude Juncker
Tageblatt: Herr Staatsminister, wie geht es dem EU-Ratsvorsitzenden? Ist Luxemburgs Vorsitz des Rates der Europäischen Union schwerer als geplant oder hält sich der Stress in Grenzen?
Jean-Claude Juncker: Ich bin strukturell müde, und ansonsten heiter und gelassen.
Tageblatt: Was ist während der Verhandlungen auf EU-Ebene das größte Hindernis: Die Leute, die an den Verhandlungen teilnehmen, oder die Dossiers an sich?
Jean-Claude Juncker: Bei den Themen, die im Moment auf der Tagesordnung stehen, das heißt die Reform des Stabilitätspakts und die Zwischenbilanzierung der Lissabon-Strategie, sind es zuerst die Dossiers und die darin enthaltenen Fragen, die bei den zwei Themen sowohl europäische als auch nationale Farben tragen.
Die Schwierigkeiten liegen zum einen in der Substanz. Sie liegen aber auch in einem Vorgang, der heute deutlicher zum Ausdruck kommt, als das früher der Fall war. Ich kann hier auf 20 Jahre europapolitische Erfahrung und die vergangenen drei EU-Ratspräsidentschaften Luxemburgs zurückgreifen. Die Erweiterung der Europäischen Union auf 25 Mitglieder hat die Mechanismen der Konsultation und die Bemühungen um einheitliche Positionen auf eine evidente Weise erschwert.
Inkohärenz innerhalb der Regierungen selbst
Hinzu kommt ein Phänomen, das in der Vergangenheit nicht so stark ausgeprägt war wie heute: eine zunehmende Inkohärenz in den Regierungen selbst. Gespräche mit dem Premierminister und dem Finanzminister desselben Landes über den Stabilitätspakt sind ab und zu total unterschiedliche Gespräche. Früher verhandelte die EU-Ratspräsidentschaft mit 14 Ländern, heute sind es manchmal Verhandlungen mit 24-mal zwei Stimmen. Das macht nach innen das Handwerk schwierig, weil man nicht nur eine Schnittmenge aus den Positionen der Länder zusammenbekommen muss, sondern man muss zeitweise dafür sorgen, dass in jedem Land eine kleine Schnittmenge zustande kommt, damit die große Schnittmenge überhaupt erst zustande kommen kann. Das ist fast schon eine neue Entdeckung, die ich erfahre.
Tageblatt: Sie haben die Reform des Stabilitätspaktes angesprochen. Kommt es nicht zu einer Aufweichung des Paktes, wenn jedes EU-Land anhand einer Liste argumentieren könnte, warum es die Defizitgrenze überschritten hat und somit ein Verfahren abwenden könnte?
Jean-Claude Juncker: Der Stabilitätspakt stand in der Kritik, weil er eine ungenügend wirtschaftliche Interpretationsweise der wirtschafts- und haushaltspolitischen Realität der EU-Mitgliedstaaten zuließ. Jetzt geben wir dem Pakt das Mehr an wirtschaftlichem Zuschnitt in seiner Interpretationsanwendung. Indem wir sagen, in wirtschaftlich guten Zeiten müssen Schulden und Defizite abgebaut und Rückstellungen gemacht werden, um in wirtschaftlich schwächeren Zeiten mehr haushaltspolitische Manövriermasse zu haben, weil die Haushaltsbelastung durch Schulden und Defizite abgebaut wird. Darüber sind wir uns einig.
Wir sind uns auch darüber einig, dass der Vertrag von Maastricht entgegen verbreiteter Behauptungen nicht sagt, jede Überschreitung des Defizitkriteriums von 3% des BIP sei unerlaubt. Der Vertrag besagt, ‘exzessive Haushaltsdefizite’ wären verboten. Und der Vertrag sagt, wenn ein Haushaltsdefizit die 3%-Marke überschritten hat, gilt es zu bewerten, ob das Defizit exzessiv übermäßig ist oder nicht und ob das Defizit temporär ist.
Wir hatten bisher keine Instrumente, um festzustellen, wann ein Haushaltsdefizit als exzessiv anzuerkennen ist. Um uns ein solches Messinstrument zu geben, wollten wir eine Liste von aussagekräftigen Faktoren aufstellen, die man für die Bewertung von Haushaltsdefiziten über 3% herbeiziehen kann. Die Aufstellung einer solchen Liste erweist sich indes als extrem schwierig.
“Das ist keine Aufweichung des Paktes”
Deshalb habe ich in meinem letzten Vorschlag keine Liste mehr vorgestellt, sondern Prinzipien, auf Basis derer jedes EU-Mitgliedsland seine eigene Liste von aussagekräftigen Faktoren aufstellen soll. Diese Liste muss obligatorisch eine wirtschaftliche Bewertung durch die EU-Kommission und den Rat der Finanzminister finden, um so auf dem Niveau der Finanzminister zum Schluss zu kommen, ob ein Haushaltsdefizit von über 3% exzessiv ist oder nicht, und um aufgrund der Liste festlegen zu können, wie viele Jahre ein Land Zeit hat, das Haushaltsdefizit auf unter 3% zurückzufahren, und was für Empfehlungen der Rat der Finanzminister dem betroffenen Land für seine Haushaltspolitik machen soll.
Das ist keine Aufweichung des Paktes. Das ist der Versuch, den Pakt nicht nur als Stabilitätspakt im orthodoxen Sinne zu begreifen, sondern auch als Wachstumsinstrument, was der Pakt sein kann.
Tageblatt: Beim Thema Lissabon-Strategie hat die Europäische Union weiterhin ein Kommunikationsproblem. Die EU-Bürger wissen bis heute zum großen Teil nicht, worum es bei dieser Strategie geht. Können Sie als EU-Ratsvorsitzender die Schwerpunkte und Ziele der Lissabon-Strategie in drei Sätzen darstellen?
Jean-Claude Juncker: Ich bin gegen Zusammenfassungen in drei Sätzen. Ich bin dagegen, durch vereinfachende Zusammenfassungen das Gefühl zu vermitteln, Politik wäre eine einfache Veranstaltung. Politik ist kompliziert.
In mehr als drei Sätzen muss man sagen, dass die Lissabon-Strategie, so wie sie im Jahre 2000 festgelegt wurde, an der ganzen Breite des wirtschaftlichen und sozialen Handelns der Europäischen Union einen Reformprozess loslösen sollte, an dessen Ende vom Jahre 2010 an die europäische Wirtschaft als der wettbewerbsfähigster Teil der Weltwirtschaft dastehen würde. Gleichzeitig müssten die Ziele der sozialen Kohäsion im Auge behalten und eine umweltpolitische Entwicklung garantiert werden, um den Anforderungen der nachhaltigen Entwicklung gerecht zu werden.
Die Strategie, die im Jahre 2000 festgelegt wurde und nur ganz begrenzte Erfolge aufweist, bleibt in ihrer Zielsetzung und in ihrer Relevanz aktuell. Es ist logisch, dass man nach fünf Jahren Bilanz zieht und sich überlegt, was man besser machen kann, um den Zielanspruch zu erreichen. Deshalb rezentrieren wir die Lissabon-Strategie auf die Punkte, wo wir in Europa schlecht dastehen. Wir haben im Vergleich mit unseren Hauptkonkurrenten einen Verlust an Wettbewerbsfähigkeit zu beklagen. Dieser muss behoben werden. Wir haben in Europa ein Wachstumsproblem und ein viel zu niedriges Wachstumspotenzial, das wir nicht einmal voll ausschöpfen. Selbst wenn wir das heutige Wachstumspotenzial voll ausschöpfen würden, wäre das dann Erreichte zu wenig, weil das dann erreichte Potenzial wesentlich unter den Wachstumsraten der Weltwirtschaft liegen würde.
Wenn wir in Europa nicht wieder Wirtschaftswachstum schaffen und das Wachstumspotenzial nicht nach oben verbessern können, wird es strikt unmöglich sein, der nächsten Generation das europäische Sozialmodell zu erhalten, weil in allen EU-Staaten die Finanzierung der Alterssicherungssysteme überhaupt nicht mehr garantiert werden kann. Dies wird von den öffentlichen Meinungen nicht gern gehört. Diese Warnungen werden in Luxemburg regelmäßig von denen mit Dementis überdeckt, denen weniger an der Zukunft liegt als an der Gegenwart. Das ist in Luxemburg besonders ausgeprägt.
Wenn wir sicherstellen wollen, dass das europäische Sozialmodell erhalten bleibt, müssen wir jetzt die Reformen machen, um heute sicherzustellen, dass das europäische Sozialmodell morgen der Mehrheit der europäischen Bürger überhaupt zugänglich erhalten werden kann. Gleichzeitig kommt es darauf an, deutlich zu machen, dass es nicht nur um Wettbewerbsfähigkeit und nicht nur um Wirtschaftswachstum geht. Das sind keine Ziele an sich. Sie sind Instrumente, die dem sozialen Zusammenhalt dienen sollen und eine umweltgerechte nachhaltige Entwicklung ermöglichen sollen.
Nun gibt es aber eine Reihe von Regierungen, für die bei der Neuausrichtung der Lissabon-Strategie lediglich Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit von Belang ist, und welche die Zielsetzungen der sozialen Kohäsion und des Umweltschutzes für romantische Hinweise halten. Das ist die Schwierigkeit diese Woche.
Ich wünsche mir, dass wir kommende Woche nach dem EU-Gipfel allen Gesellschaftsgruppen Europas sagen können, was die Lissabon-Strategie konkret für sie bedeutet, was es mit den Lissabon-Anstrengungen auf sich hat und welche Chancen sie bietet.
Tageblatt: Der Richtlinienvorschlag zur Schaffung des Binnenmarktes für Dienstleistungen stößt wegen des Herkunftslandprinzips auf großen Widerstand. Was ist die richtungsweisende Position der EU-Ratspräsidentschaft?
Jean-Claude Juncker: Wir müssen den europäischen Dienstleistungsbinnenmarkt hinbekommen. Der Grund ist einfach: Dienstleistungen tragen zu 70% zum geschaffenen Mehrwert der europäischen Wirtschaft bei. Deshalb hat sich Luxemburg immer für die Öffnung der Dienstleistungen und damit – wenn auch in Grenzen – auch für das Ursprungslandprinzip eingesetzt. Ein stark exportorientiertes Land wie Luxemburg sollte sich fragen, ob es ein verständliches Verhalten ist, gegen das Ursprungslandprinzip Sturm zu laufen. Man sollte sich ganz genau überlegen, was es heißen würde, wenn man dieses Prinzip fallen lassen würde.
Von Anfang an sind wir dagegen, dass sich auf eine hinterhältige Art und Weise in den Text der Richtlinie zur Öffnung von Dienstleistungen ein Risikopotenzial von sozialem Dumping einschleicht. In meiner Programmrede von dem Europäischen Parlament habe ich am 12. Januar gesagt, wir sind für die Öffnung der Dienstleistungsmärkte und wir sind gegen soziales Dumping. Die Luxemburger Ratspräsidentschaft hätte gern, dass viele Leute nicht den Kopf verlieren vor lauter Deregulierungs- und Liberalisierungswut, dass die Öffnung von Dienstleistungsmärkten sich nicht auf Kosten der Arbeitnehmer und ihrer Rechte vollzieht. Ich bin dagegen, dass eine polnische Firma mit Beschäftigten aus einigen anderen Ländern in Luxemburg ihre Dienstleistung zu Löhnen anbietet, die nicht unseren Tariflöhnen und unseren Mindestlöhnen entsprechen.
“Das würde zu einer sozialen Implosion führen”
Das würde zu einer sozialen Implosion führen auf den EU-Arbeitsmärkten und führt schließlich zu einer Ablehnung des europäischen Integrationsgedankens durch die Mehrheit der EU-Bevölkerung, der Arbeitnehmerschaft. Deshalb sind wir mit der Direktive, wie sie in ihrer jetzigen Form vorliegt, nicht einverstanden.
Tageblatt: Herr Staatsminister, Umfragen über die Wahlabsichten der Luxemburger beim Referendum über die EU-Verfassung zeigen, dass viele Menschen unentschlossen sind. Reicht es in dieser Situation aus, die Menschen für ein solch kompliziertes Vertragswerk mit Fernsehauftritten zu gewinnen?
Jean-Claude Juncker: Ich meine nicht zu denen gehört zu haben, die sich für die Abhaltung des Referendums so kurz nach der Ratspräsidentschaft aussprachen. Während der Präsidentschaft hat eine Reihe von politischen Figuren keine Zeit, eine regelrechte Erklärungskampagne zu führen und sich an kontroversen Debatten über den Verfassungsvertrag zu beteiligen. Das hätte ich auch für notwendig gehalten, und deshalb hatte ich die Idee geäußert, das Referendum nach den Sommerferien abzuhalten.
Wie man in geraffter Form, so dass die Erklärungen richtig bleiben, den Menschen die Inhalte näher bringen kann, wenn sie bereit sind, sich mit den Inhalten zu beschäftigen. Hier machen Regierung und Parlament eine Reihe von Informationskampagnen die sich, weil es um ein Referendum geht, durch eine bewertende Neutralität auszeichnen müssen. Wir können nicht mit Steuergeldern probieren, den Wähler in eine Richtung zu beeinflussen. Deshalb setze ich meine Hoffnungen auf die Anstrengungen der Kammer und der Medien, um die Inhaltsbeförderung zu aktivieren.
Trotz aller Vereinfachungsbemühungen muss man wissen, dass es eine komplizierte Verfassung ist, weil Europa ein komplizierter Kontinent ist, wo einfache Formulierungen nicht ausreichen, um kontinentale Verwerfungen zu überbrücken. Die Formulierungen müssen Instrumente beschreiben, die Brücken bauen, statt Löcher zu vertiefen.
Tageblatt vom 21 März 2005, Interview Guy Kemp, Jakub Adamowicz: