In gut drei Monaten wählen wir ein neues Europäisches Parlament. Fast überall in Europa sagen uns aktuelle Umfragen, dass die politische Landschaft sich weiter verändern wird. Von Belgien, wo weit links stehende Parteien fast volksparteiliche Prognosegrössen erreichen, über Frankreich und die neue Partei der “Gilets jaunes” bis nach Deutschland mit einer konstant erschreckend starken AFD und Italien, wo fast nur noch populistische Parteien wählbar erscheinen, entsteht der Eindruck einer immer massiveren Artikulation von Volkswut. Wir müssen uns die Frage stellen: wieso wollen Menschen Parteien wählen, die eigentlich nur Protest ausdrücken?
Hinter den beschriebenen politischen Phänomenen steht der Eindruck, in weiten Teilen der Wählerschaft, dass die Politik der traditionellen Parteien nicht mehr vertrauenswürdig ist. Es ist ein Eindruck von Irrelevanz. Es ist letztlich ein Eindruck empfundener – und leider auch real existierender – Ungerechtigkeit in unseren Gesellschaften, gegen die politisch nichts unternommen würde. Zumindest nicht von den traditionellen Parteien.
Tatsächlich steigen – auch in Luxemburg – Prekaritätsrisiken. Tatsächlich wird für grösser werdende Teile der Bevölkerung ein anständiges Leben mit jenem Geld zunehmend schwieriger, das mit ganz normaler Arbeit verdient werden kann. Tatsächlich stehen Löhne, Gehälter und Renten von Millionen von Europäern in keiner nachvollziehbaren Relation zu den Bilanzsummen und Gewinnen grosser Unternehmen. Tatsächlich ist nicht nachvollziehbar, wie ein paar Giganten des Internet und andere multinationale Unternehmen es schaffen, Milliardengewinne zu erwirtschaften und kaum besteuert zu werden. Die Wirtschaftsordnung, die letztlich ein Produkt auch politischer Entscheidungen und Weichenstellungen ist, wird zunehmend als ungerecht empfunden, und damit “die Politik” als falsch.
Aus einem fast hundert Jahre alten englischen Gerichtsurteil stammt der Satz: Not only must justice be done; it must also be seen to be done. Diese Formulierung ist heute politisch von höchster Bedeutung. Recht und Gerechtigkeit müssen empfunden werden, es reicht nicht aus, dass sie objektiv und abstrakt existieren. Es gibt keine Gerechtigkeit, wenn die grosse gesellschaftliche Mehrheit nicht davon überzeugt ist, dass sie existiert. Diese Mehrheit ist gerade dabei, fast überall in Europa drastisch zu schrumpfen. Für demokratische Politik und deren Akteure ein gefährlicher Prozess.
Die traditionellen Parteien, vor allem jene, die sich Volksparteien nennen, müssen sich der neuen Gerechtigkeitsfrage annehmen. Wir können nicht dauerhaft hinnehmen, dass Arbeitsbezüge und Konsum stark besteuert werden, während Betriebsgewinne weitgehend unbelastet bleiben. Globalisierungsängste müssen ernst genommen werden, denn aus ihnen resultiert jener Protest, der die politische Landschaft Europas durcheinanderwirbelt. Die Bürger, die Wähler verlangen von der Politik, dass sie Gerechtigkeit von Chancen und Verteilung herbeiführt. Eine Gerechtigkeit, die auch als solche empfunden wird.
Frank Engel
CSV-Nationalpräsident