Erinnerung an gute Gespräche und Begegnungen
„Sie müssen Streit anfangen“, sagt Heiner Geißler in seinem Abgeordnetenbüro im „Langen Eugen“. Es sind die letzten Monate der Bonner Republik, vor dem endgültigen Umzug nach Berlin. Nach einem Interview für das „Luxemburger Wort“ in Bitburg trafen wir uns hier wieder. Aufgeregt war ich, der Student, vom „legendären“ Heiner Geißler empfangen zu werden. Im Vorzimmer legte sich die Aufregung, nachdem ich der Mitarbeiterin Frau Pudelko helfen konnte, das Faxgerät zu reparieren. Ich wollte ihn überzeugen nach Luxemburg zu kommen, als Gastredner beim Forum der CSJ Schüler und Studenten. Und er kam.
Für uns Junge in der CSV war der frühere Generalsekretär der CDU ein Vorbild. So wie er die Christdemokraten definierte, so wollten wir sein. Christlich-sozial, ökologisch und proeuropäisch. Seine Definition des „C“ spornte uns bei der Verfassung unserer Grundsätze an. „Das C ist in einer weitgehend säkularisierten Welt das, was es von Anfang an war: Provokation, Ärgernis; es ist unbequem, Herausforderung, Stein des Anstoßes. Aber es ist auch, wie schon immer, Signal in einer angsterfüllten Zeit, Maßstab in einer Zeit grenzenloser Freiheit, menschliches Gegengewicht zu einer entfesselten Technik und Wissenschaft.“ Wir glaubten an das Versprechen der Neunziger Jahre. Die Mauer war gefallen. Die Welt veränderte sich. In Europa wuchs zusammen, was zusammengehörte, wie Willy Brandt sagte. Wir wollten ein föderales Europa schaffen. Wir wollten unsere Partei erneuern.
Der Pate der Erneuerung
Bei Diskussionen und der Ausarbeitung unserer Positionspapiere stand Heiner Geißler oft Pate. Ohne dies zu ahnen, versteht sich. 1994 sorgte die CSJ mit dem Leitantrag „Frësch Loft“ für einige Aufregung innerhalb und außerhalb der Partei. Die CSV solle sich stärker zur Mitglieder- und Programmpartei weiter entwickeln, so die zentrale Forderung. Wir schlugen als erste in der CSV die Einführung einer Frauenquote vor. Allerdings musste sich der Kongress zur intensiven Beratung dieser Frage vertagen. Auf einem Sonderkongress in Bettemburg wurde der Frauenquote schließlich zugestimmt.
Mit Jean-Claude Juncker kam zu dieser Zeit ein junger, dynamischer Premier ins Amt. Wir sahen in ihm einen Verbündeten bei der Modernisierung der Mutterpartei. Und Heiner Geißler war der „geistige Vater“ unserer Ideen. Als Generalsekretär an der Seite von Helmut Kohl hatte er aus der „alten Tante“ eine moderne Volkspartei geformt. Er besetzte neue Themen, provozierte und erneuerte seine Partei programmatisch. Als selbsternannte Rebellen inspirierten wir uns am erfahrenen Haudegen. Wir mahnten damals, das Parteileben dürfe sich nicht auf einen „Premierwahlverein“ beschränken. Einer Versuchung, der wir in langen Regierungsjahren mitunter dann doch erlagen. Aber wir finden auch immer wieder zurück auf den Weg der Infragestellung und Erneuerung. Und Heiner Geißler blieb ein Wegbegleiter.
Auf die Grundsätze kommt es an
Als sich die CSV zu Beginn des neuen Jahrtausends vornahm, ihr Grundsatzprogramm von 1974 (!) zu überarbeiten, war Heiner Geißler wieder eine Quelle der Inspiration. Die soziale Marktwirtschaft wurde in „Jidder Eenzelen zielt“ um eine ökologische Komponente erweitert und im vergangenen Jahr in den Escher Leitsätzen mit dem Bezug auf die „ganzheitliche Ökologie“ wie sie Papst Franziskus in der Enzyklika „Laudato si’“ umriss, weiter untermauert. Geißler engagierte sich für das von Hans Küng proklamierte Weltethos, das in unseren christlich-sozialen Grundsätzen verankert wurde.
Geißler prägte den Begriff der „neuen sozialen Frage“. Ein Auftrag für Christdemokraten, die Augen für Sorgen und Missstände offen zu halten. Er plädierte leidenschaftlich für eine neue Weltordnung, die nicht vom Kapitalismus diktiert wird. Heiner Geißler hatte ein weltweites Verständnis der christlichen Nächstenliebe. „Wir müssen nicht die ganze Welt lieben, aber wir müssen denen helfen, die in Not sind. Das kann auch der Feind sein“, schreibt er in seinem letzten Buch. Denn erst Nächstenliebe und solidarisches Handeln geben dem menschlichen Leben Sinn.
„Sie müssen Streit anfangen“, natürlich denke ich als Generalsekretär meiner Partei oft an diesen Ratschlag zurück. Gelegenheit in der Sache zu streiten bietet sich bisweilen. Die Demokratie lebt vom Meinungsaustausch. Auch innerparteilich. Darauf pochte Heiner Geißler immer wieder. Für ihn war der Mut zum Streit eine „demokratische Tugend“. Geistige Unbeweglichkeit war für ihn eine Fehlerquelle. Eine Partei könne nicht ewig auf Positionen verharren, nur weil es immer so gewesen sei. Was zählt sei die Treue zu den Grundsätzen. “Die konkrete politische Entscheidung muss sich an der Realität ausrichten“.
Am vergangenen Dienstag hat uns Heiner Geißler für immer verlassen. Er hat an der Existenz Gottes, aber nie an der Botschaft Jesu gezweifelt. Vielleicht kennt er nun die Antwort, die viele von uns suchen.
Laurent Zeimet
ist Abgeordneter und Generalsekretär der CSV
(Quelle: Luxemburger Wort 16/09/2017)