„Der Krise nicht machtlos ausgeliefert“

Premierminister Jean-Claude Juncker im Wahlinterview mit dem Luxemburger Wort, 6. Juni 2009

Keine Periode sei für ihn so herausfordernd gewesen wie diese Legislaturperiode, bilanziert Jean-Claude Juncker die Aufgaben, die CSV und LSAP seit August 2004 zu meistern hatten. Angesichts der geleisteten Arbeit gelangt der Premierminister zur Schlussfolgerung, dass das Land gut regiert worden sei. Mit Blick auf die Bewältigung der Krise bleibt der Regierungschef für Luxemburg zurückhaltend, stellt allerdings klar, dass das Land der Krise nicht machtlos ausgeliefert sei.

Herr Juncker, Wahlzeit ist auch Bilanzzeit. Was behalten Sie persönlich aus den vergangenen fünf Jahren zurück?

Die erste der bisher sechs Legislaturperioden, während denen ich Mitglied der Regierung war, fiel in die Zeit der Stahlkrise. Es war dies eine anstrengende Periode, die wir aber durch eine große nationale Solidaritätsanstrengung überwanden. Jedoch kann ich mich nicht an eine Zeit meines politischen Lebens erinnert, die so herausfordernd gewesen wäre wie die, in der wir uns jetzt befinden. Dies, weil wir es erstmalig in der Weltwirtschaftsgeschichte mit einer Krise zu tun haben, die zum selben Zeitpunkt die ganze Welt erfasst hat. Man muss sich einmal vorstellen, dass in diesem Jahr 750 000 Menschen mehr, allein wegen der Weltwirtschaftskrise sterben. Ich kann mich an keine Periode erinnern, die, am Beispiel der Wechselkurse oder der Erdölpreisentwicklung, so unsicher gewesen ist wie diese. Eine zukunftsorientierte Wirtschafts- und Haushaltspolitik wurde dadurch total unvorhersehbar. Es ist also eine Periode des ungenügenden Wissens über das, worauf wir zusteuern. Dies meine ich, wenn ich sage, dass ich nicht weiß, wie wir aus dieser Krise herauskommen werden.

Nun wird aber von der Opposition behauptet, dass das Land schlecht auf die Krise vorbereitet sei …

Solche Vorwürfe überraschen mich nicht. Es ist Teil des klassischen Oppositionsdiskurses. Man muss bedenken, dass diese Krise ursächlich und geografisch nicht von Luxemburg ausging, aber mit ihren Ursachen längst in Luxemburg angekommen ist. Es liegt auf der Hand, dass man das Land infolgedessen nicht in vollem Umfang auf die Krise vorbereiten konnte.

Wie fällt die politische Bilanz mit Ihrem Koalitionspartner aus?

Ich denke, dass das Land in den vergangenen fünf Jahren gut regiert wurde, dies sowohl in Anbetracht der zuletzt wirtschaftlich schwierigen Zeiten, als auch aufgrund der vieles nicht vereinfachenden Tatsache, dass wir zu Beginn der Legislaturperiode einen EU-Vorsitz zu bewältigen hatten. Es war dies eine Zeit, in der die Lissabon-Strategie auf eine neue Basis gestellt, der Wachstums- und Stabilitätspakt reformiert wurde. Wäre das nicht gemacht worden, würden die Euro-Länder den Stabilitätspakt heute massiv verletzen. Innenpolitisch hatten wir in Anbetracht sich extrem verengender Staatsfinanzen schwierigste Entscheidungen zu treffen und einschneidende Budgeteinsparungen vorzunehmen. Wir haben das Einheitsstatut geschaffen, fiskalische Verbesserungen unternommen, energie- und klimapolitische Initiativen ergriffen. Mit der reformpolitischen Bilanz dieser Regierung kann ich nicht unzufrieden sein.

Wie wichtig war es, dass Ihre Regierung in dieser Zeit über eine stabile Mehrheit verfügte?

Um zügig zu regieren, zogen wir nach den vergangenen Wahlen eine Koalition mit der LSAP einem Regierungsbündnis mit den Grünen vor. Es war aus arithmetischen und programmatischen Gründen die beste Lösung. Extrem knappe Mehrheiten oder multikolore Zusammensetzungen, mit dem Zweck, die größte Partei auszuschließen, führen zu weniger guten Resultaten, weil solche Regierungen durch momentane parlamentarische Stimmungen erpressbar werden. Deshalb ist eine solide und gefestigte parlamentarische Mehrheit absolut unerlässlich, um in extrem schwierigen Momenten ebenso schwierige Beschlüsse zu treffen.

Kann man das als Koalitionsaussage werten oder hält sich die CSV alle Möglichkeiten offen?

Es gehört zu den guten demokratischen Traditionen in Luxemburg, sich im Vorfeld der Wahlen nicht auf einen Koalitionspartner festzulegen. Richtig und gut ist es, sich nach Analyse der Resultate im Licht sich bietender Mehrheiten und programmatischer Vereinbarkeit mit Koalitionen zu befassen.

Gegen die ADR hatten Sie in der Vergangenheit eine Exklusive ausgesprochen …

… und auch jetzt kann ich mir mit der ADR keine stabile parlamentarische Mehrheit vorstellen.

Und eine Dreierkoalition unter Beteiligung der CSV?

Ich denke, dass jedes Modell einer Dreierkoalition dem Ernst der Situation nicht angemessen ist. Ich wünsche mir, dass die Menschen die CSV als führende politische Kraft in Luxemburg bestätigen und sich bei ihrer Wahlentscheidung nicht von der Frage lenken lassen, welche andere Partei mit der CSV regieren soll. Ich beobachte mit Sorge die Auffassung, wonach die CSV ohnehin am Sonntag als die mit Abstand stärkste Partei aus den Wahlen hervorgeht. Ich teile diese Einschätzung nicht und wünsche mir, dass die Menschen nützlich wählen und der CSV zu der notwendigen Stärke verhelfen, damit sie einen eindeutigen Anspruch auf die Regierungsbildung erheben kann. Ohnehin müssen wir in dieser Situation zu einer zügigen Regierungsbildung kommen, unabhängig von den Parteien, die in Frage kommen. Aber diese Wahlen sind für mich noch nicht entschieden. Gewählt wird erst am Sonntag.

Weshalb sollen die Wähler überhaupt CSV und Jean-Claude Juncker wählen?

Wir leben in einer Zeit, in der eine gesunde Mischung aus ein paar Dingen verlangt ist. Da wäre vor allem die politische Erfahrung. Davon wird man keineswegs müde, wie meine politischen Gegner monieren. Sie gibt einem vielmehr jene Einschätzungssicherheit, um keine falschen Entscheidungen zu treffen, sondern eine annähernd richtige Politik zu verfolgen. Eine absolut richtige Politik gibt es nicht. Daneben ist die CSV eine Partei, die unter Beibehaltung ihrer grundsätzlichen, wenn auch mitunter anzupassenden Prinzipien, ohne dem Zeitgeist nachzulaufen, sich an Zukunftsfragen orientiert und keinesfalls Dominierungsgelüsten nachhängt. Die CSV regiert nicht für sich selbst oder ihre eigenen Wähler, sondern versucht, alle Sensibilitäten im Lande bei der Umsetzung ihrer Politik zu berücksichtigen. Außerdem kombiniert die CSV in sich selbst die Prinzipien der wirtschaftlichen Effizienz und des sozialen Ausgleichs. Der Markt produziert keine Solidarität. Solidarität entsteht nur aus dem Miteinander von wirtschaftlicher Effizienz und sozialer Verantwortung.

Wie sieht denn eine politische Öffnung nach dem Geschmack der CSV aus?

Die CSV strebt in sensiblen gesellschaftspolitischen Fragen eine überlegte Politik und einen möglichst breiten Konsens an. Wir wollen nicht partout und unter allen Umständen modern sein.

Woran denken Sie dabei konkret?

An die Trennung von Kirche und Staat! In dieser Frage, die ja mit einem regelrechten Übereifer von denen vorgebracht wird, die Änderungen wollen, will ich dann aber genau wissen, was sie darunter verstehen. Irgendwann muss diese Frage geklärt werden. Aber es ist mit Sicherheit keine politische Priorität der CSV. Es wird zu sehen sein, welche Pfeile die Parteien, die bei eventuellen Koalitionsgesprächen als Partner in Frage kommen, im Köcher haben. Die giftigen Pfeile werden wir entfernen.

Ein solcher Giftpfeil …

… wäre zum Beispiel die Abschaffung des Religionsunterrichts. Das findet mit mir nicht statt! Kinder sollen von einem Werteunterricht profitieren. Bei der Wahl dieses Werteunterrichts sind die Eltern allein maßgebend, nicht der Staat.

Die DP macht sich stark für die Interessen der Mittelschicht, die LSAP präsentiert sich als Garant des sozialen Ausgleichs. Wo situieren Sie die CSV?

Wir haben uns überhaupt nicht zwischen diesen Positionen zu situieren. Erst einmal bin ich hochgradig allergisch gegen jene Auffassungen, die das Luxemburger Volk als eine Mischung von Schichten und Klassen begreifen. Für mich gibt es bloß Luxemburger und Leute, die in Luxemburg leben. Wer von „Mittelschicht“ spricht, für den gibt es logischerweise auch eine „Oberschicht“ und eine „Unterschicht“. Das läuft meinem Menschenbild hundertprozentig zuwider! Es gibt in Luxemburg keine Oberschicht, keine Mittelschicht und keine Unterschicht! Es gibt unterschiedliche Einkommensverhältnisse, aber die Menschen einzuteilen ist für mich unannehmbar. Dies führt dazu, dass man die Menschen in Luxemburg noch weiter dividieren will, z. B. die Landeseinwohner und die Grenzgänger unterschiedlich behandelt beim Kindergeld, so wie es die DP vorschlägt. Dies führt zu einer nächsten Division der Bevölkerung beim von der DP angedachten Wohngeld. Die Einwohner des Landes müssten dann wieder unterteilt werden, weil man das Wohngeld nicht unabhängig vom Wohnort gewähren kann. Indem man Menschen in Luxemburg in Schichten und Klassen einteilt, rutscht man in Verhaltensweisen ab, die der sozialen Geschlossenheit abträglich sind. Das werde ich verhindern.

Die Frage der sozialen Kohäsion stellt sich angesichts der steigenden Zahl an Grenzgängern und jener Luxemburger, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, aber dennoch.

Ich verspüre mich fest verankert auf dem Boden der katholischen Soziallehre. Darin gibt es eine Reihe von Prinzipien, die etwas aus der Mode geraten sind, in meinem Wertekatalog aber einen festen Platz haben. Das erste lautet: Eigentum verpflichtet. Das heißt, dass jene, die mehr haben, im Fall nationaler Solidaraktionen ihren Einkommensverhältnissen gemäß mehr beitragen müssen als jene, die den Mindestlohn oder etwas mehr verdienen. Das zweite Prinzip besagt: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ich akzeptiere nicht, dass auf derselben Produktionslinie ein Arbeitnehmer aus Steinfort besser bezahlt werden soll als ein Beschäftigter aus Sterpenich, dadurch dass Letzterem die Hälfte seines Kindergeldes vorenthalten und er kein Wohngeld bekommen soll. Ich fand immer, dass die Wirtschaft eine soziale Verantwortung hat.

Sind lineare Indextranchen nicht auch ungerecht, weil sie dem Großverdiener mehr einbringen als dem Kleinverdiener?

Am 12. Oktober 2005 habe ich in einer Regierungserklärung angeregt, mit den Sozialpartnern über die Einführung einer maximalen Indextranche zu diskutieren. Die Gewerkschaften fanden diese Idee damals nicht gut. Ich habe aber keineswegs Probleme mit der Idee einer maximalen Indextranche.

Wie fest steht mit Ihnen das Prinzip der Lohnindexierung, unter dem Aspekt der Wahrung der Attraktivität des Standortes Luxemburg?

Wir bleiben bei der Indexierung der Löhne. Wie andere Parteien sagen wir auch, dass, sollte es zu einer extremen Verschlechterung der Wirtschaftslage kommen, im sozialpartnerschaftlichen Gespräch zu prüfen ist, wie das System beizubehalten ist, ohne die Wettbewerbsfähigkeit in Frage zu stellen. Allerdings ist diese Kompetitivität nicht allein abhängig von der Indexfrage. Sie muss gewahrt und gestärkt werden durch andere, nicht auf Sozialabbau hinauszielende politische Akzente.

Die CSV hat sich aber für eine Anpassung der Anfangsgehälter im öffentlichen Dienst ausgesprochen …

Im Rahmen einer nicht kostenintensiven Gehälterrevision beim Staat muss man über die Anfangsgehälter sprechen. Niedrigere Anfangsgehälter beim Staat bedeuten aber nicht automatisch eine allgemeine Absenkung der Entlohnung im öffentlichen Dienst. Von sozialem Abbau kann keine Rede sein.

Steuererleichterungen wird es mit der CSV vorerst keine geben …

… weil in den nächsten zwei, drei Jahren eine Anpassung des Steuertarifs an die Inflation nicht denkbar ist. Dadurch würden das Staatsdefizit vergrößert und der Schuldenstand anwachsen, was zu Lasten der jungen Generationen ginge. Die CSV hat aber auch nicht die Absicht, die Steuerlast zu erhöhen. All das heißt auch nicht, dass punktuelle Steuererleichterung nicht denkbar sind. Sie müssen aber finanzierbar sein.

Wie will sich der Staat denn neue Finanzierungsmittel beschaffen? Durch weitere Schulden?

Wenn wir unser Konjunkturprogramm finanzieren und je nach Notwendigkeit bis 2011 strecken, kommen wir nicht an einer begrenzten Erhöhung der Staatsschuld vorbei. Ansonsten wären kräftige Einschnitte im Sozialbereich notwendig, was ich ausschließen will. Eine detaillierte Durchforstung der staatlichen Ausgaben muss stattfinden. Die Wirtschaft muss wieder angekurbelt werden, was voraussetzt, dass das Wachstum weltweit und vor allem im Euro-Raum wieder auf Touren kommt. Was man nicht mehr vornehmen kann, sind Kürzungen bei den Investitionen. Und es wäre relativ einfallslos, den Rotstift beim Sozialbudget anzusetzen.

Welche Trümpfe hält Luxemburg denn in der Hand?

Ich glaube, dass Luxemburg im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien noch eine gute Zukunft vor sich hat. Das gilt auch für den Bereich Forschung. Am Finanzplatz gibt es weiterhin Entwicklungschancen, z. B. bei ökologisch ausgerichteten Investitionsfonds, ebenso in der Logistikbranche. Den Konsequenzen der Krise sind wir keineswegs machtlos ausgeliefert. Das Know-how der Beschäftigten, das steuerliche Umfeld und schnelle Entscheidungsfindungen sind nur einige Beispiele, wie das Land seine natürlichen Vorteile nutzen kann. 

Quelle: Luxemburger Wort, 6. Juni 2009, Marcel Kieffer, Marc Glesener, Hortense Bentz und Marc Schlammes