Der Friedensbeitrag der Nato ist unbestritten

60 Jahre Nordatlantische Allianz – Interview von Premierminister Jean-Claude Juncker im Vorfeld des Gipfels in Baden-Baden und Straßburg

Premierminister Jean-Claude Juncker im Gespräch mit LW-Redakteurin Hortense Bentz

Luxemburger Wort: Die Nato wird morgen Samstag 60 Jahre alt. Wie schätzen Sie die Leistungen des Bündnisses für die Alliierten insgesamt, und für Luxemburg, das ja zu den zwölf Gründungsmitgliedern gehört, im Besonderen ein?

Jean-Claude Juncker: Der Stabilisierungs- und der Friedensbeitrag der Nato ist heute unbestritten. Das Bündnis gehört, mit der Europäischen Union, ohne jeden Zweifel zu jenen Organisationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg am meisten zu stabilen Verhältnissen in Europa beigetragen haben. Die Allianz beinhaltet eine starke transatlantische Dimension: Ohne die Nordamerikaner, vornehmlich die USA, wäre Europa nach 1945 nicht in der Lage gewesen, das eigene Schicksal zu meistern. Insofern ist der 60. Geburtstag der Nato eine Feier, die die Richtigkeit eines Weges zeigt, nämlich des transatlantischen Weges. Gleichzeitig mahnt er zur Bescheidenheit: Erst sehr spät konnten ost- und mitteleuropäische Länder zur Nato dazustoßen. Zu einem der bewegendsten Momente, die ich in der internationalen Politik erlebt habe, gehört eine Sitzung auf dem Nato-Gipfel in Madrid im Jahr 1997, als wir entschieden, dass Polen, Ungarn und Tschechien neue Mitglieder werden sollten. Die parallele Entwicklung, also die Ausdehnung sowohl der EU als auch der Nato nach Mittel- und Osteuropa ist ein Höhepunkt der Wiederbegegnung zwischen der europäischen Geschichte und der europäischen Geografie. Die beiden Entwicklungen kann man nicht voneinander trennen. Und was Luxemburg anbelangt: das Land, das als Gründungsmitglied seit 1949 dabei ist, hat sich also 60 Jahre lang in die richtige Richtung bewegt.

Luxemburger Wort: Ein wichtiger Punkt auf der Tagesordnung des Gipfels am Freitag und Samstag wird die Bekämpfung des internationalen Terrorismus in Afghanistan sein. Die neue Strategie von US-Präsident Obama sieht eine verstärkte zivile und wirtschaftliche Aufbauhilfe vor. Wie beurteilen Sie diese Strategie?

Jean-Claude Juncker: Das, was der neue amerikanische Präsident in puncto Alliierten-Umgang mit Afghanistan vorgeschlagen hat, findet unsere volle Zustimmung. Wir sind schon seit langen Jahren der Auffassung, dass in Afghanistan eine kluge Mischung zwischen Diplomatie, Verteidigung und Entwicklung geschehen muss. Die Auseinandersetzung in diesem Land kann man nicht gewinnen, ohne die afghanische Bevölkerung für sich zu gewinnen. Das bedingt auch, dass man Abstand nehmen muss von einem exklusiv militärischen Ansatz zur Lösung der Sicherheitsund der politischen Fragen. Man muss der zivilen Dimension großes Gewicht geben. Der Aufbau der Zivilgesellschaft, der Armee und der Polizei muss von der internationalen Gemeinschaft gleichrangig behandelt werden. Den Krieg gewinnt man mit militärischen Mitteln, die Organisation des Friedens gewinnt man nur, indem man eine starke zivile Komponente hinzufügt.

Luxemburger Wort: Was bedeutet das für Luxemburg?

Jean-Claude Juncker: Das luxemburgische Engagement in Afghanistan ist gemessen an der Größe und den Möglichkeiten unseres Landes nicht gering. Seit 2001 haben wir alles in allem rund 22,5 Millionen Euro für Afghanistan bereitgestellt. In Zukunft werden wir eine Summe von durchschnittlich 2,5 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung stellen. Damit werden u.a. Programme zur Unterstützung der Agrarproduktion, der Ernährungs- und Gesundheitshilfe, der Familienzusammenführung und vieles mehr zur Verfügung gestellt. Im Bereich der Verteidigung sind 4 Millionen Supplementar-Intervention aus dem Budget des Verteidigungsministeriums in Aussicht gestellt worden. Hinzu kommt die Summe von 75.000 Euro für die Präsidentschaftswahlen, die am 20. August stattfinden. Luxemburg nimmt seine Aufgaben also sehr ernst. Und die Mischung aus militärischen Präsenzelementen (Luxemburg hat neun Soldaten in Afghanistan stationiert) und aus gesteigerten zivilen Interventionsnotwendigkeiten entspricht der neuen amerikanischen Strategie und dem Ansatz des Nordatlantischen Bündnisses.

Luxemburger Wort: Die zweite große Herausforderung für die Nato ist die Gestaltung der Beziehung zu Russland. Die Debatte um den Beitritt von Georgien und der Ukraine macht diese Aufgabe nicht leichter…

Jean-Claude Juncker: Als wir im April vergangenen Jahres in Bukarest auf dem Nato-Gipfel zusammentrafen, war die vorpreschende Haltung der Bush-Regierung jene, Georgien und Ukraine so schnell wie möglich in die Nato aufzunehmen. Die europäische Seite, zumindest der größte Teil, hat dem energisch widersprochen, weil sie die Beitrittsbedingungen nicht erfüllt sah. Wenn die beiden Länder Mitglieder der Nato werden wollen, müssen sie große Demokratiefortschritte machen. Sie müssen die Möglichkeiten, die sie theoretisch haben, um den innenpolitischen Nato-Konsens zu stärken, verdoppeln. In der Ukraine etwa gibt es keinen Konsens in der Gesellschaft für einen Nato-Beitritt. Daher bedarf es mehr Zeit, um zu sehen, wie sich die beiden Länder innen- und außenpolitisch entwickeln. Dann müssen wir in der Nato zur Kenntnis nehmen, dass eine europäische Sicherheitsarchitektur ohne russischen Beitrag nicht möglich ist. Russland ist ein wichtiger Nachbar der EU und der Nato. Wir sind Sicherheitspartner in Europa und wir sollen mit den Russen den Sicherheitsdialog auf gleicher Augenhöhe führen. Russland ist ein großes Land, ein stolzes Land. Russland sieht die Nato in weiten Teilen als feindliche Verbrüderung von Staaten und Armeen gegen russische Sicherheitsinteressen und spürt sich – zu Unrecht – von der Nato umzingelt. Wir aber haben die Nato-Erweiterung nicht als Zwangsverfahren verstanden, sondern wir haben die Länder aufgenommen, die Mitglied werden und sich aus früheren Umarmungen herausbewegen wollten. Ich halte viel davon, dass man mit Russland einen freundlichen und freundschaftlichen Dialog und eine ebensolche Partnerschaft pflegt.

Luxemburger Wort: Seit einiger Zeit deutet sich eine Annäherung zwischen dem Iran und den USA sowie der Nato an. In welche Richtung könnte diese gehen?

Jean-Claude Juncker: Ich halte die Intensivierung des Gesprächs zwischen den USA und dem Iran als eine der positivsten Entwicklungen, die die internationale Gemeinschaft in den vergangenen Monaten und Jahren erfahren hat. Wir hatten seit unserer EU-Präsidentschaft immer Kontakte mit iranischen Autoritäten, wir haben auch immer unseren amerikanischen Freunden zu verstehen gegeben, dass es Sinn machen würde unter europäischer Federführung, insbesondere von Javier Solana, engeren Kontakt mit dem Iran zu suchen. Wir machen uns natürlich über die fundamentalistischen Tendenzen in diesem Land keine Illusionen. Wir wissen aber auch, dass es in der inneriranischen Gesellschaft Kräfte gibt, die mehr in Richtung Europa und damit auch in Richtung Ausgleich mit der internationalen Gemeinschaft ausgerichtet sind. Wir wollen als luxemburgische Regierung die Tendenz unterstützen, die in der amerikanischen Diplomatie erkennbar wird, mit dem Iran geregelte Kontakte aufzunehmen.

Luxemburger Wort: Der Gipfel will den Auftrag zur Erabeitung eines neuen strategischen Konzepts des Bündnisses erteilen, das jenes von 1999 ersetzen soll. Stichwort: Wie global kann, wie global soll die Nato sein?

Jean-Claude Juncker: Ich halte nicht viel vom Konzept einer globalen Nato. Die Nato ist ein Sicherheitspartner von vielen anderen Kräften in der Welt. Sie kann nicht Weltgendarm werden. Ich denke, dies würde nicht nur ihre operationeilen Fähigkeiten übersteigen. Die Allianz kann durchaus, im internationalen UN-Auftrag, Sicherheitsaufgaben in anderen Teilen der Welt wahrnehmen. Das tut sie vor der Küste von Somalia, das macht sie in anderen Teilen der Welt. Aber sie kann ihre politische Mission nicht aus Selbstantrieb und aus eigener Überzeugung heraus allein expandieren. Die Nato kann ihre Aktivitäten in andere Teile der Welt, die außerhalb ihres direkten Zuständigkeitsbereichs liegen, ausdehnen, aber immer nur im Rahmen eines internationalen Mandats.

Luxemburger Wort: Die Stärke der Nato war einst, dass sie nicht nur Verteidigungs-, sondern auch Wertebündnis war. Kann dieser Kitt in einer multilateraleren Welt und in einer Gemeinschaft mit bereits 28 Mitgliedern noch halten?

Jean-Claude Juncker: Wir haben einen neuen gemeinsamen Feind. Das ist der Terrorismus, der international tätig ist. Das ist ein Feind, der Zersetzungsgefahren für die demokratische Grundordung in unseren Ländern birgt. Es ist ein asymmetrischer Krieg. Hier müssen natürlich die Geheimdienste zusammenarbeiten, was sie auch tun.

Luxemburger Wort: Erstmals wird ein Nato-Gipfel von zwei Staaten – Deutschland und Frankreich – ausgerichtet. Auch kehrt Frankreich wieder vollständig in die integrierte Kommando-Struktur der Nato zurück. Kann dies eine Stärkung des europäischen Elements in der Nato sein?

Jean-Claude Juncker: Es liegt eine große symbolische Kraft in der Tatsache, dass der Nato-Gipfel fast 65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gemeinsam von zwei Ländern organisiert wird, die am Ursprung des Zweiten und auch des Ersten Weltkriegs standen. Das ist an sich ein Hochfest des europäischen Kontinents, der dem Rest der Welt, aber auch den Bündnispartnern gegenüber deutlich macht, dass sich in Europa die Verhältnisse zwischen großen Nationen sehr stark verändert haben. Ich begrüße es ausdrücklich, dass Frankreich, abgesehen von seinen Nuklearwaffen, wieder in die integrierte Kommando-Struktur der Nato zurückkehrt. Diese Entwicklung zeigt imgrunde, dass die Europäer sich ihrer eigenen Verteidigungsidentität zunehmend bewusst werden. Und ich begrüße auch, dass die neue US-Regierung dem Weiterausbau einer reinen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsdimension nicht mehr feindlich gegenübersteht, sondern sieht, dass eigenständige europäische Verteidigungsanstrengungen Sinn machen.

Quelle: Luxemburger Wort, 3. April 2009