Globalisierung birgt auch Ansteckungsgefahren in sich

Jean-Claude Juncker, Premierminister und Präsident der Eurogruppe über die Finanzkrise (Deutschlandfunk, 17. September 2008)

Jochen Spengler: Notenbank und Regierung suchen in den Vereinigten Staaten fieberhaft nach Wegen, um eine unkontrollierbare Ausweitung der Finanzkrise zu verhindern. Nach dem Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers kämpft der Versicherer AIG um sein Überleben. Anders als bei Lehman Brothers, aber schon wie bei den Immobilienbanken Freddie Mac und Fannie Mae wird der amerikanische Steuerzahler helfen.
Mit den Lehman Brothers ist nicht nur eine traditionsreiche Bank an der Wall Street pleite gegangen; es ist ja viel schlimmer. Die US-Bürger haben sich mit Hypotheken und Krediten überschuldet. Sie werden sparen müssen, einsparen, und die Auswirkungen werden wir auch in Europa spüren, denn die Nachfrage nach den Produkten unserer Industrie wird sinken in den Vereinigten Staaten und in Asien, das ja auch unter der US-Krise leidet. Eine Spirale, man könnte auch sagen eine chronische ansteckende Krankheit. – Am Telefon ist der alte und neue Chef der Euro-Finanzminister Jean-Claude Juncker, Luxemburgs Ministerpräsident. Guten Morgen, Herr Juncker.

Jean-Claude Juncker: Guten Morgen, Herr Spengler.

Jochen Spengler: Herr Juncker, die britische Barclays-Bank übernimmt nun Teile der Lehman Brothers. Die US-Notenbank lässt die Leitzinsen unverändert und stellt 60 Milliarden Euro dem angeschlagenen Versicherungskonzern AIG als Kredit zur Verfügung. Sind das Nachrichten, die Sie beruhigen?

Jean-Claude Juncker: Das sind Nachrichten, die mich überhaupt nicht beruhigen. Die Finanzkrise, die weiter tobt und die nicht mal ihr vorläufiges Ende erreicht hat, bereitet uns größtes Kopfzerbrechen. Beruhigend an der Nachrichtenlage heute Morgen finde ich, dass es unseren amerikanischen Freunden gelungen ist, den Konkurs von AIG abzuwenden. Der hätte in der Tat verheerende Auswirkungen gehabt und wäre weltweit spürbar geworden. Insofern sehe ich die Nachrichtenlage doch mit großer Sorge, weil die Finanzkrise anhält, Erleichterung, weil ein Rettungsplan für AIG zu Stande kam.

Jochen Spengler: Ja, aber wir sind hier in Europa keine Insel der Seligen, wo es keine Ansteckungsgefahr gegenüber der chronischen Krankheit gibt?

Jean-Claude Juncker: Wer denkt, das was im Herzen der Weltwirtschaft, in den USA passiert, würde uns in Europa über seine Ausläufer nicht erreichen, der hat noch nicht zur Kenntnis genommen, dass wir in einer globalisierten Welt leben. Globalisierung hat Vorteile. Globalisierung birgt auch Ansteckungsgefahren in sich. Ich sehe allerdings nicht, dass Europa in demselben Maße von dieser Finanzkrise erfasst würde, wie dies augenscheinlich der Fall in den USA ist.

Jochen Spengler: Was macht Sie denn da so sicher, Herr Juncker?

Jean-Claude Juncker: Weil unser Finanzsystem stabiler aufgestellt ist, weil wir diese Risikogeschäfte auf unseren Finanzplätzen nicht in dem Maße vollzogen haben, wie dies in den USA der Fall war.

Jochen Spengler: Aber bei uns sinken auch die Aktienkurse. Bei uns sinken auch die Immobilienpreise. Wie groß ist denn die Rezessionsgefahr?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe die Rezessionsgefahr im voll umfänglichen Wortsinn nicht. Wir werden im Euro-Gebiet keine Rezession haben. Das Wirtschaftswachstum wird sich deutlich abschwächen. Wir gehen davon aus, dass wir im laufenden Jahr ein Wirtschaftswachstum von um die 1,3 Prozent haben werden. In Deutschland besteht überhaupt keine Rezessionsgefahr. Das hat auch bei der Etat-Aussprache der Bundesfinanzminister gestern deutlich gemacht.

Jochen Spengler: Herr Juncker, Sie haben ja mehrfach Konjunkturprogramme zur Ankurbelung des Konsums abgelehnt, noch im Januar bei uns im Programm. Haben wir jetzt nicht eine neue Situation, wo man noch mal darüber nachdenken müsste?

Jean-Claude Juncker: Man hat immer eine neue Situation. Das kann aber nicht dazu führen, dass man sein Gewehr jetzt mit anderer Munition lädt. Konjunkturprogramme haben sich in der Vergangenheit als Strohfeuer herausgestellt, die als einzig bleibendes Resultat zur Folge hatten, dass Defizite ausgeweitet wurden, dass die Schuldenberge höher wurden. Wer Konjunkturprogramme heute auf den Weg bringt, der plant Steuererhöhungen für morgen mit. Das muss man klar sehen. Es gibt keinen erkennbaren Grund, wieso wir in Europa jetzt europaweite Konjunkturprogramme auflegen sollten. Im Gegenteil: wir haben uns darauf verständigt, dass die Staaten, die über Haushaltsmargen verfügen, weil sie ihr mittelfristiges Konsolidierungsziel schon erreicht haben, diese nutzen können, um die Wachstumskräfte zu stärken und das Wachstumspotenzial Europas nach oben zu korrigieren. Es kommt jetzt darauf an, dass wir sehr gezielt und sehr bewusst uns mit dem Inflationsfluss auseinandersetzen. Es kommt darauf an, dass wir mit der Konsolidierung unserer öffentlichen Haushalte weiter machen. Es wird notwendig sein, dass wir die überall geplanten Strukturreformen auch wirklich durchführen.

Jochen Spengler: Also Strukturreform und Schuldenabbau statt Konjunkturprogramm? Das kann man sagen?

Jean-Claude Juncker: Ja. Schuldenabbau ist immer angesagt. Konjunkturstützende Maßnahmen können dort ergriffen werden, wo die Staaten über Haushaltsmargen in genügend großem Maße verfügen, um dies zu tun. Aber jetzt wieder in eine Verschuldungsspirale sich absinken zu lassen, hielte ich für völlig verfehlt. Nichts tun ist natürlich auch keine adäquate Reaktion auf das, was passiert. Deshalb müssen konjunkturstützende Maßnahmen dort ergriffen werden, wo man über die Möglichkeiten rein haushaltsmäßig betrachtet überhaupt noch verfügt.

Jochen Spengler: Wo ist denn das?

Jean-Claude Juncker: Das ist in den Ländern der Fall, die Haushaltsüberschüsse haben. Das ist in den Ländern der Fall, die ihre Haushaltslage mittelfristig unter Kontrolle haben. Davon gibt es einige in der europäischen Währungszone. Spanien beispielsweise hat ein relativ breites Programm aufgelegt und muss nicht neue Schulden aufnehmen, um dieses Programm zu finanzieren.

Jochen Spengler: Nun würde der Bundesfinanzminister Steinbrück sagen, unter Kontrolle haben wir unseren Haushalt sehr wohl, auch wenn wir noch nicht schuldenfrei sind.

Jean-Claude Juncker: Ich mische mich nicht in deutsche Haushaltspolitik ein. 

Deutschland hat keine riesengroßen Reserven, die es mobilisieren könnte. Es ist gut für die europäische Währungszone insgesamt, dass die Haushaltskonsolidierung sehr erhebliche Fortschritte in Deutschland gemacht hat. Steinbrück wird ohne jeden Zweifel nicht konjunkturabknickende Maßnahmen ergreifen müssen, weil er in den vergangenen Jahren eine sehr tugendhafte Haushaltspolitik zu führen wusste. Länder allerdings, die in den guten Boom-Jahren der vergangenen Jahre nicht dafür gesorgt haben, dass Konsolidierungsfortschritte erzielt werden, die sind allerdings in einer wesentlich weniger günstigen Lage, als dies in Deutschland der Fall ist.

Jochen Spengler: Sie haben eben im Vergleich zu den USA gesagt, dass wir in Europa ja doch die Kontrollen besser im Griff haben. Aber wir haben ja nun auch Probleme zumindest im Bankensektor gehabt. Vielleicht kommen da noch welche. Der deutsche Staat alleine hat zehn Milliarden Euro Steuergelder für die Mittelstandsbank IKB zahlen müssen. Also das Problem der Bankenaufsicht gibt es auch in Europa und seit Jahren wird über eine wirksame Kontrolle der Finanzmärkte geredet. Warum dauert das eigentlich so lange?

Jean-Claude Juncker: Selbstverständlich gibt es auch im europäischen Bankensektor Probleme und das, was in Deutschland von staatlicher Seite gemacht wurde, ist absolut begrüßenswert und geht in Ordnung, weil es ging ja auch darum, den deutschen Finanzplatz zu stabilisieren. Das musste einfach gemacht werden. Wahr ist: wir reden in Europa seit Jahren darüber, wie man die Finanzaufsicht verbessern könnte. Diese Überlegungen kommen jetzt in eine operative Phase. Wir sind auf Ebene der 27 Finanzminister, nicht nur der Euro-Land-Finanzminister einig, dass wir dies tun müssen. Wir arbeiten an einer besseren Finanzmarktintegration. Wir werden uns mit dem Thema Rating-Agenturen zu beschäftigen haben, mit dem Thema Transparenz an den Finanzmärkten. Die Dinge sind im Fluss und unterwegs und werden zielführend vor Jahresende in einer Gesamtlösung einmünden.

Jochen Spengler: Das heißt, wir haben vor Jahresende eine wirksame Kontrolle der Finanzmärkte in Europa?

Jean-Claude Juncker: Ich würde mich nicht dazu versteigen, dem was jetzt geplant ist absolute Wirksamkeit zukommen zu lassen. Aber wir werden eine wesentlich bessere Finanzaufsicht haben. Dies wird keine zentrale europäische Aufsichtsbehörde sein, aber wir werden das Regelwerk, das überall in Europa zur Anwendung kommt, straffen müssen und genau das tun wir auch.

Jochen Spengler: Herr Premierminister, finden Sie es eigentlich nicht merkwürdig, dass jetzt vor allem jene nach dem Staat rufen, die sonst als Verfechter des Neoliberalismus ihn möglichst heraushalten wollen aus dem Wirtschaftsleben?

Jean-Claude Juncker: Ich bin so früh am Morgen zum Ironisieren nicht aufgelegt. Wenn wir heute Abend sprechen würden oder gestern Abend gesprochen hätten, dann würde ich meiner Verwunderung schon darüber Ausdruck geben, dass diejenigen, die eigentlich stets staatliche Zurückhaltung predigen, jetzt sehr beeilt sind, um nach der staatlichen Hilfe zu rufen. Im Übrigen beeindruckt es mich auch einigermaßen, dass die Angelsachsen, Briten und Amerikaner, die ansonsten ja auch für einen schmalen Staat plädieren, die ganze Staatsgewalt eigentlich aufbringen, um diese rettende Aktion durchzuleben. Ich bin der Meinung, dass dies passieren muss, und stelle fest: Ideologien sterben, wenn die Wirklichkeit kommt.

Jochen Spengler: Das wollte ich fragen. Was schlussfolgern wir daraus, dass die Konzepte nicht ganz zutreffend sind?

Jean-Claude Juncker: Wir schlussfolgern daraus, dass man auf jede Krise wird anders reagieren müssen, und wir sollten daraus schlussfolgern, dass wir uns in unseren theoretischen Aufsätzen nicht so apodiktisch äußern sollen, wenn es um staatlichen Einfluss in der Wirtschaft geht. Es ist erkennbar geworden, dass der Staat gebraucht wird.

Jochen Spengler: Stimmt der Spruch der Linken, Gewinne werden privatisiert, Verluste sozialisiert?

Jean-Claude Juncker: Nein. Ich würde mir diesen Schnellsatz so nicht zu eigen machen.

Jochen Spengler: Aber es klingt so, als wäre dahinter eine lange Erfahrung.

Jean-Claude Juncker: Nein. Hier handelt es sich einfach darum, auch Kleinanleger zu schützen. Hier handelt es sich darum, bei dem, was jetzt aktuell in den USA abläuft, dass man weltweite Auswüchse dieser in den USA tobenden Finanzkrise vermeiden muss, ansonsten das ganze System destabilisiert wird. Und wenn Systeme destabilisiert werden, dann sind die kleinen Leute im Regelfall die, die die Zeche zahlen. Insofern halte ich diesen von der Linken propagierten Satz für im Endergebnis nicht denen dienend, die sie eigentlich vorgeben schützen zu wollen. Genau das Gegenteil ist der Fall.

Jochen Spengler: Jean-Claude Juncker, Chef der Euro-Gruppe und Luxemburgs Premierminister. Herr Juncker, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Jean-Claude Juncker: Ich danke. Tschüß!

Jochen Spengler: Tschüß! 

Quelle: Deutschlandfunk, 17. September 2008, Jochen Spengler