Der negative Ausgang des irischen Referendums wird die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihrem heute in Brüssel beginnenden Gipfeltreffen prioritär beschäftigen. Ziel müsse es sein, so Premierminister Jean-Claude Juncker gegenüber dem Luxemburger Wort, zusammen mit den Iren eine Lösung zu finden und den Reformvertrag am Leben zu erhalten. Eine Lösung erwartet Juncker für Oktober. Gleichzeitig sei es wichtig, einen Handlungsrahmen für die Nationalstaaten festzulegen, um in Europa auf die Energie- und Lebensmittelkrise adäquat zu reagieren.
Luxemburger Wort: Herr Premierminister, nach dem irischen Nein zum EU-Reformvertrag dürfte die Tagesordnung dieses EU-Gipfels, der eigentlich im Zeichen der weltweiten Treibstoff- und Nahrungsmittelkrise stehen sollte, wohl noch einmal umgekrempelt werden …
Jean-Claude Juncker: Ja. Im Mittelpunkt der Sitzung wird der Umgang mit dem negativen Votum in Irland zum Vertrag von Lissabon stehen. Ich hoffe aber auch, dass das zweite Thema wegen dieser Aktualität nicht zu kurz kommen wird, nämlich die Erörterung europäischer Reaktionselemente angesichts der steigenden Öl- und Lebensmittelpreise, die vor allem die niedrigen Einkommenskategorien sowie eine Reihe anfälliger Wirtschaftssektoren , wie z.B. das Transport- und Fischereigewerbe, betreffen. Wir werden zudem über die europäischen Perspektiven der Länder des westlichen Balkans beraten und u.a. auch über den für 1. Januar 2009 anberaumten Beitritt der Slowakei zur Eurozone entscheiden. Die Tatsache vor allem, dass wir über die Aufnahme der Slowakei als 16. Mitglied der Eurogruppe befindet, zeigt also, dass trotz aller Rückschläge und Wegeunfälle der europäische Integrationsprozess weitergeht.
Luxemburger Wort: Sie sprechen von einem Wegeunfall. Wie groß ist der Schaden, den Europa bei diesem Unfall erlitt?
Jean-Claude Juncker: Wir machen keinen Unterschied zwischen dem irischen Nein und dem negativen Votum der Franzosen und Niederländer im Mai und Juli 2005. Man kann in Europa nicht zwischen großer und kleiner Demokratie unterscheiden. Eine Abstimmung ist eine Abstimmung, egal wo sie stattfindet. Die in einzelnen größeren Mitgliedsstaaten geäußerten Bedenken , wonach ein kleines Land nicht blockieren dürfe, was ja implizit bedeutet, dass ein großes Land dies dürfe, kann ich nicht akzeptieren. Folglich ist das Votum der Iren ernst zu nehmen, und zu respektieren. Dieses stoppt natürlich Europa zu einem Moment, in dem es zu einem großen Sprung nach vorne ansetzen wollte, dadurch dass es sich einen Vertrag geben wollte, der die europäische Entscheidungsfindung vereinfacht hätte und der auch die europäische Demokratie ein Stück vorwärts gebracht hätte.
Ich bin der Meinung, dass das, was in Irland geschah, auch in einem anderen Land hätte geschehen können. Es bleibt die Tatsache, dass nur zwei Länder per Referendum Ja zu einer über den Lissabonner Vertrag hinausgehenden europäischen Vorstellung sagten, und das sind Spanien und Luxemburg. Es zeigt sich erneut, dass die eigentliche europäische Krise darin besteht, dass rund die Hälfte der europäischen Bevölkerung mehr Europa will, und die andere Hälfte der Meinung ist, es sei dessen schon genug bzw. zu viel.
Luxemburger Wort: War es denn überhaupt der geeignete Weg, über eine solch komplizierte Angelegenheit wie den Reformvertrag per Referendum entscheiden zu lassen?
Jean-Claude Juncker: Diese Frage stellt sich nicht für mich. Sicher handelt es sich beim Lissabonner Reformvertrag um ein schwer verdaubares und unlesbares Dokument. Man muss aber jedem Land die Freiheit lassen, darüber frei zu bestimmen, wie es die Ratifizierungsprozedur absolvieren möchte. Der Reformvertrag von Lissabon ist dabei aber nicht komplizierter als das luxemburgische Steuergesetz.
Luxemburger Wort: Ist denn der Vertrag von Lissabon nun ebenso gestorben wie vorher der EU-Verfassungsvertrag …?
Jean-Claude Juncker: Der Verfassungsvertrag ist in maßgeblicher Weise im Lissabonner Vertrag übernommen worden, bei wenigen, nicht relevanten Abstrichen. Wir müssen jetzt sehen, wie wir den Reformvertrag am Leben halten können. Deshalb werden wir dem irischen Premierminister bei diesem Gipfel intensiv zuhören müssen, bei seiner Erklärung, weshalb dieses Referendum so endete, wie es endete, und seiner Beschreibung der Möglichkeiten, um eine einvernehmliche Lösung zu finden, um die Iren mit an Bord zu bekommen. Die Theorie, dass man die Iren jetzt abstrafen und ausgrenzen sollte, entspricht nicht meiner Sicht der Dinge. Wir müssen zusammen mit den Iren eine Lösung finden, und ich bin auch überzeugt davon, dass uns das gelingen wird. Beim Gipfel müssen alle 27 deutlich machen, das der Ratifizierungsprozess fortgesetzt wird. Es darf sich niemand im Windschatten Irlands durchmogeln.
Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit
Luxemburger Wort: Wie viel Zeit dürfte denn nun wieder verstreichen, bis der Lissabon-Vertrag in Kraft treten kann? Wie geplant ab dem 1. Januar 2009 wird das ja nun wohl nicht mehr möglich sein.
Jean-Claude Juncker: Das kann ich aus heutiger Sicht nicht abschätzen. Ich gehe davon aus und werde in Brüssel auch vorschlagen, dass der französische Präsident sämtliche Lösungsvorschläge bündelt und die EU im Oktober, unter französischem Ratsvorsitz den Ausweg aus der derzeitigen Lage festschreiben wird. Der Kalender für die Lösung läuft dann ab Oktober. Bis dahin müssen wir vor allem das Gespräch mit den Iren suchen. Und Europa weiter erklären. Viele Menschen in Europa nehmen nämlich den Umwälzungsprozess in der Welt nicht ernst und ziehen offensichtlich auch keine europäischen Lektionen aus diesem Vorgang.
Die Demografie erklärt uns die Welt, die im Entstehen ist. Im Jahr 1900 waren 20 Prozent der Weltbevölkerung Europäer, im Jahr 2000 elf Prozent, 2025 werden es sieben Prozent sein, im Jahr 2100 gerade noch vier Prozent. Daraus ergibt sich zwingend die Logik einer vertieften europäischen Integration. Wir werden uns verstärkt Gehör verschaffen müssen. Die Konsequenz kann nur in der Vertiefung der europäischen Zusammenarbeit bestehen und nicht in der Zersplitterung unserer Ambitionen und dem Rückschritt zu einer gehobenen Freihandelszone.
Luxemburger Wort: Liegt ein Teil Schuld an der derzeitigen und Euroskepsis der Bürger nicht auch bei der Politik selbst, die vornehmlich alles Negative Europa anhängt und die positiven Aspekte ungenügend erklärt und hervorhebt?
Jean-Claude Juncker: Solche Reflexe der Politik sehe ich als Zeichen ausgeprägter Denkfaulheit. Es ist bekannt, dass in Brüssel nicht anonyme Schreibtischtäter einsame Entscheidungen nehmen . Diese Entscheidungen werden von Regierungen und Parlament genommen. Leider vermittelt die Politik unzureichend, dass in Brüssel Demokratie von vielen geübt wird und nicht eine Diktatur von wenigen. Leider aber flüchten sich auch oft viel zu viele Bürger in die Logik nationaler Bequemlichkeiten und merken nicht, dass viele nationale Annehmlichkeiten das Resultat der EU sind.
Luxemburgr Wort: Wegeunfälle wie dieser letzte in Irland werfen natürlich auch wiederum die Frage u.a. nach der Regierbarkeit der EU bei wachsender Erweiterung auf.
Jean-Claude Juncker: Die Erweiterung und die Tatsache, dass wir mittlerweile 27 Länder sind, hat uns ja nicht daran gehindert, uns, erstens, auf einen Verfassungsvertrag und, zweitens, auf den Lissabonner Reformvertrag zu einigen. Wir sind als 27 Regierungen durchaus einigungsfähig. Es ist auf der Volksebene, wo dies nicht immer so empfunden wird. Es gibt einen Graben zwischen Politik und Bürgern. Aber der europäische Graben zwischen Politik und Bürgern ist nicht tiefer als in den einzelnen nationalen Staaten. Es ist die Konsequenz einer seit längerem anhaltenden politischen Systemkrise, die ich auch darauf zurückführe, dass wir es nicht fertigbringen, einen richtigen Diskurs zu führen.
Die Lösungen sollte man einfach erklären, die Probleme in ihrer ganzen Dichte darstellen. Das aber ist nicht immer einfach. Leider ist es aber auch so, dass die Lösungen oft schon zerredet werden, ehe die Probleme in ihrer Ganzheit und Vielschichtigkeit dargelegt sind. Das erfahre ich jetzt z.B. auch hier in Luxemburg, wo nach kurzer Zeit schon von der Regierung genaue Vorstellungen im Rahmen einer parlamentarischen Aktualitätsdebatte eingefordert werden, nachdem ich eben erst mittelfristige Maßnahmen zu Gratis-Kinderbetreuung und Dienstleistungsschecks angekündigt habe. Ich nehme das Recht in Anspruch, über gewisse Probleme auch einmal etwas länger nachdenken zu dürfen. Politik kann keine Fast-food-Küche sein.
Luxemburger Wort: Bietet sich jetzt nicht in der Konsequenz des irischen Neins in besonderer Weise die Gelegenheit, bei der Behandlung der Thematik der hohen Öl- und Lebensmittelpreise, den Bürgern zu zeigen, dass Europa ihre alltäglichen Probleme und Kaufkraftsorgen ernst nimmt, was diese so nicht immer denken oder wahrnehmen?
Jean-Claude Juncker: Ich stelle fest, dass nach den negativen Referenden in Frankreich und den Niederlanden gesagt wurde: "Gerade nun muss Europa seine Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen. Nun brauchen wir das Europa der Resultate." Das haben wir ja dann versucht zu tun. Und nun, nach dem Nein der Iren, ist der Schlachtruf wieder der gleiche. Ich erwarte mir von einem leistungsfähigen Europa keine wesentliche Veränderung der grundsätzlichen Einstellung jener Leute, die Europa wenig Positives abgewinnen können. Richtig ist natürlich auch, dass es eine Reihe von Problemen gibt, die eine europäische und nationale Antwort verlangen, wobei aber auch alles, was der gesunde Menschenverstand und elementares Gerechtigkeitsgefühl der Politik ins Handlungsheft in Sachen Energie- und Lebensmittelkrise diktieren, nicht unbedingt auf die Europäische Union warten sollte. So haben wir in Luxemburg ein Programm vorgelegt, das einkommensstärkend bei Leuten mit geringem Einkommen – Stichwort: Kinderbonus, Steuererleichterungen und Nettosteuererleichterung – ist.
Ich war einer von jenen, die verlangten, dass die Öl- und Lebensmittelproblematik auf die Tagesordnung dieses Gipfeltreffens kommen sollte, und wir werden jetzt auch in der EU Maßnahmen zugunsten einkommensschwacher Bevölkerungsschichten treffen, auch wenn diese Maßnahmen von der letzten Entscheidung der nationalen Regierungen abhängen. Die EU wird also einen Rahmen festlegen, innerhalb dessen die Nationalstaaten handeln können und sollten. Die Gemeinschaft befasst sich insofern auch mit der globalen Problematik, denn mit Sicherheit werden die Ölpreise auf einem hohen Niveau bleiben.
Von November 2000 bis heute sind diese um insgesamt 680 Prozent gestiegen! 680 Prozent! Daraus ergibt sich nicht die Konsequenz, dass wir vom Weg der eingeschlagenen Klimaschutzpolitik abweichen sollten, sondern vielmehr dass man diese Politik, vor allem in ihrem energiesparenden Teil, mit größter Gründlichkeit und Systematik vorantreibt, weil wir uns sonst mittelfristig immer mit diesem Problem konfrontiert sehen werden.
Luxemburger Wort: Und was bedeutet das für die europäische Agrarpolitik?
Jean-Claude Juncker: Wenn ich im Jahr 2005 im Zusammenhang mit der Agrarpolitik sagte, und dafür von den Briten und anderen quasi ausgelacht wurde, dass Europa dafür sorgen müsste, die Ernährungsgarantie abzusichern, dann ist heute der Beweis erbracht, dass in der Welt ungenügend Lebensmittel produziert werden. War es eine europäische Antwort zu sagen, wir müssten in Europa die Lebensmittelproduktion reduzieren, weil die Agrarpolitik zu teuer würde? Also werden wir uns auch erneut über die Ausrichtung der Agrarpolitik unterhalten müssen. Europa hat es bis in die 60er-Jahre nie fertiggebracht, sich selbst zu ernähren. Dank der gemeinsamen Agrarpolitik konnten wir es dann heute wieder nicht mehr.
Wir müssen vor allem den Leuten helfen, die einkommensschwach sind und einen Großteil ihres Einkommens für Lebensmittel ausgeben müssen, folglich am stärksten von der Krise betroffen sind. In der Welt trifft diese Krise die Ärmsten der Armen. Es ist also wichtig, dass bei diesem Gipfel erneut die im Juli 2005 unter luxemburgischer Präsidentschaft verabschiedeten Zielsetzungen untermauert und bestätigt werden, wonach bis 2015 unbedingt der entwicklungspolitische Anteil von 0,7 Prozent am nationalen Reichtum erreicht werden muss. Die entwicklungspolitischen Anstrengungen sind nämlich im vergangenen Jahr weltweit zurückgegangen, während, nebenbei bemerkt, der Waffenhandel in den vergangenen zehn Jahren um 45 Prozent gestiegen ist.
Luxemburger Wort: Zurück in die Luxemburger Innenpolitik. Nun da feststeht, dass es im Januar 2009 nicht zur Nominierung eines ständigen EU-Ratspräsidenten kommen wird, kann man davon ausgehen, dass Sie im Juni nächsten Jahres Ihre Partei als Spitzenkandidat in die Parlamentswahlen führen werden?
Jean-Claude Juncker: Bei solchen Fragestellungen und Entscheidungen bin ich in die Strukturen meiner Partei eingebunden. Zuerst werden wir klären, wie es in Europa weitergeht, dann kommt das andere. Ich habe ja schon mehrmals darauf hingewiesen, dass ich sehr gern in Luxemburg bleiben würde, und mich mit der anderen Frage zu beschäftigen gedenke, wenn diese sich stellt.
Quelle: Luxemburger Wort, 19. Juni 2008, Marcel Kieffer, Marc Glesener