“Zu viele Nationalhelden”

“Wir sollten uns bemühen, die Europäische Erklärung zum europäischen Prozess statt nationale Unter-Erklärungen anzubieten, die die EU aus der Wahrnehmung der Menschen entfernt.” Premierminister Jean-Claude Juncker über aktuelle europäische Themen

Tageblatt: Im jüngsten Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission wird die Türkei nach wie vor kritisiert. Wie und wann wird die Türkei den Beitritt in die EU schaffen?

Jean-Claude Juncker: Wie sich die Befindlichkeit in Europa entwickelt, ist nicht vorherzusehen. Der Beschluss lautet, dass mit der Türkei Beitrittsverhandlungen aufzunehmen sind, und die sind aufgenommen worden. Man muss alle Elemente der Entscheidung des Europäischen Rats betrachten. Dazu gehört aber auch zwingend der Satz, die Verhandlungen seien ‘ergebnisoffen’ zu führen.

Tageblatt: EU-Kommissar Günter Verheugen äußerte dieser Tage in Berlin jedoch die Gewissheit, dass die Türkei ohne jeden Zweifel aufgenommen werde. Denn bisher hätten sogar jene Politiker, die im eigenen Land gegen den Türkei-Beitritt sprechen, in Brüssel alles mitgetragen.

Jean-Claude Juncker: Wenn Günter Verheugen überzeugt ist, dass der Türkei-Beitritt sicher erfolgt, halte ich das aus heutiger Sicht – und bei aller Wertschätzung Verheugens – für etwas kühn. Die Vorstellung, dass sich die Türkei so weit verändert hätte, dass sie ohne Wenn und Aber ein Mitgliedsland werden könnte, ist eine Erwartung, die man nicht hätte schüren sollen. Zuerst sind Defizite zu beseitigen. Und die EU-Kommission wird dann ihrer Pflicht gerecht werden.

Dass der türkische Reformeifer in Richtung Europa, so wie der jüngste Fortschrittsbericht festgestellt hat, erlahmt, das ist wohl wahr. Aber das sehe ich weder mit Sorge noch mit Distanz. Die Türkei wird nicht einfach durch das europäische Tor durchgewunken! Sondern die Türkei muss sich zum ausgemachten Stichtag in einem Zustand präsentieren, der das Land beitrittsfähig zeigt.

Tageblatt: Wie sieht die Westbalkan-Strategie aus?

Jean-Claude Juncker: Der Europäische Rat hat 2003 in Saloniki dem westlichen Balkan eine europäische Perspektive angeboten. Ich sehe, dass Kroatien erhebliche Fortschritte gemacht hat – trotz Defiziten, die es noch im Justizbereich gibt. Der Westbalkan braucht die europäische Perspektive.

Tageblatt: Wäre die Festsetzung eines Beitrittsdatums dienlich, vorausgesetzt, die Kandidaten erfüllen die Bedingungen? Beispielsweise ein Beitrittsdatum im Jahr 2014, also genau hundert Jahre nach dem Attentat von Sarajewo?

Jean-Claude Juncker: Ich habe zwar einigen Sinn für historische Daten. Aber zuerst muss geklärt sein, dass die Serben in einer wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verfasstheit sind, die mit dem Zustand Kroatiens vergleichbar ist. Ich halte jedenfalls nichts davon, schon zu Beginn von Verhandlungen den Zeitpunkt zu beschreiben.

Tageblatt: Zur Diskussion um den Weisenrat der EU: Muss eigentlich jedes EU-Mitglied einen Vertreter aus dem eigenen Land entsenden?

Jean-Claude Juncker: Erstens werden wir uns erst einmal über das Mandat des Weisenrates verständigen müssen. Es geht nicht, dass sich einzelne Weise zur Zukunft konfliktuell äußern, während der Ratifizierungsprozess läuft, und dass sie dauernd neue Ideen auf die Umlaufbahn setzen. Das würde zu erheblichen Irritationen führen. Ich plädiere da für größtmögliche Zurückhaltung. Zweitens bin ich nicht der Auffassung, dass der Weisenrat 27 Mitglieder haben muss. Man kann auch eine kleinere Zahl von suchenden Weisen haben. Die müssen nicht unbedingt von den Mitgliedern als jeweiliger Mitgliedsstaat benannt werden.

Tageblatt: Nachdem der deutsche Kandidat, Professor Werner Weidenfeld, wegen einer Spesenaffäre nicht mehr in Frage kommen dürfte, könnten die Deutschen eventuell auch den ehemaligen Bundeskanzler Wolfgang Schüssel aus Österreich nominieren?

Jean-Claude Juncker: Ich habe weder gegen Weidenfeld noch gegen Schüssel etwas einzuwenden. Aber man soll sich auf ein Team einigen, das keinen direkten Bezug zur nationalen Provenienz hat.

Tageblatt: Wie funktioniert das Zusammenspiel von Angela Merkel und dem neuen französischen Präsidenten Sarkozy aus Ihrer Sicht?

Jean-Claude Juncker: Ich kann hier keine Illusionen verlieren, weil ich hier nie Illusionen gehabt habe. Deutschland und Frankreich sind für die Zusammenarbeit unbedingt nötig. Der deutsch-französische Motor reicht zwar nicht, um den Wagen auf die Strecke zu bringen. Oder so gesagt: Ohne deutsche-französische Zusammenarbeit geht nichts. Mit der deutsch-französischen Zusammenarbeit geht aber noch nicht alles.

Tageblatt: Sie spielen zwischen Deutschland und Frankreich, wo es oft diametral gegensätzliche Auffassungen gibt, eine Vermittlerrolle. Wird dies schwieriger?

Jean-Claude Juncker: Darüber rede ich nicht. Denn wenn man darüber redet, dann wird man nicht mehr um Vermittlung gebeten. Aber ich allein bin nicht das Öl für das Fahrzeug.

Tageblatt: Was ändert sich jetzt im deutsch-polnischen Verhältnis?

Jean-Claude Juncker: Das Verhältnis Deutschland/Polen wird sich jetzt normalisieren. Womit ich ausdrücke, dass ich es die vergangenen zwei Jahre nicht als normal einstufe. Ich hatte mit drei deutschen Bundeskanzlern zu tun: mit Helmut Kohl, mit Gerhard Schröder und mit Angela Merkel. Und ich weiß, dass sich alle drei stets für die polnischen Belange eingesetzt haben. Und dass es in Warschau viele Zungenschläge gegenüber Deutschland gegeben hat, die ich als nicht angemessen empfunden habe.

Tageblatt: Sind Sie zufrieden mit der Wahrnehmung der Europäischen Union in der europäischen Öffentlichkeit?

Jean-Claude Juncker: Es gibt ja gar keine europäische Öffentlichkeit. Es gibt auch nicht die europäische öffentliche Meinung. Es ist eigentlich nicht viel anderes als das Addieren von nationalen Meinungen. Wir tun nur manchmal so, als gäbe es eine europäische Meinung. Die kann es aber gar nicht geben – bei 27 Mitgliedsstaaten, bei so vielen unterschiedlichen Sprachen, bei so vielen verschiedenen kulturellen Hintergründen. Es gibt halt viele Staaten in der EU, die dem nationalen Gedanken mehr zugetan sind als andere.

Nehmen wir zum Beispiel die diversen Pressedienste. Wenn ich mir da die einzelnen Presseaussendungen ansehe. Bei der komparativen Lektüre frage ich mich dann: In welcher Sitzung war ich eigentlich? Da wird keine Rücksicht genommen auf die Zielsetzung oder auf die Art und Weise des Zustandekommens eines Kompromisses und einer Entscheidung.

Ein gutes Beispiel ist der Reformvertrag, der in Lissabon verabschiedet wurde: In einigen Ländern wird das so dargestellt, als sei dieser Reformvertrag das genaue Gegenteil vom vorigen Verfassungsvertrag. In Luxemburg werden Sie die Wahrheit wiederfinden, nämlich dass 94 Prozent identisch sind. Wenn man dann als EU-Bürger beides liest – einmal, dass es diese angeblich riesige Differenz gibt, und einmal, dass es fast deckungsgleich ist -, da fragt man sich schon, wie soll die EU Glaubwürdigkeit erreichen können? Wir sollten uns bemühen, die Europäische Erklärung zum europäischen Prozess statt nationale Unter-Erklärungen anzubieten, die die EU aus der Wahrnehmung der Menschen entfernt.

Tageblatt: Ist das ein Problem der Medien oder ein Problem der politischen Akteure?

Jean-Claude Juncker: Das ist vor allem ein Problem der handelnden Personen, also durchaus der Regierungschefs. Zu Hause spielen manche den Nationalhelden, statt europäisch aufzutreten. Dazu kommt aber schon auch das Medienproblem: Die Politiker reagieren mit der undifferenzierten Wahrnehmung auf die Erwartungshaltung der nationalen Medien. Das hat schon damit zu tun. Das liest sich oft wie eine EU-Sportberichterstattung. Als wenn es ein europäischer Wettlauf wäre. Und wer wen besiegt hat. Europa ist doch kein Laufsteg für nationale Haltungen!

Tageblatt: Herr Juncker, wie lange bleiben Sie der luxemburgischen Politik erhalten? Sie gelten als Favorit für das Amt des EU-Ratspräsidenten.

Jean-Claude Juncker: Solang mich die Luxemburger ertragen wollen. Die Luxemburger fällen das Urteil, wie lang sie mich ertragen. Zurzeit habe ich die Ahnung, dass sie mich noch eine Weile gut ertragen können. Oder besser: ohne ‘gut’. Also dass sie mich noch eine Weile ertragen können. 

Quelle: tageblatt, 15. November 2007, Max Malik