” Am Ende tritt ein, was ich möchte”

Premier- und Finanzminister Jean-Claude Juncker hat die gemeinsame europäische Währung mehr geprägt als jeder andere. Ein “Zeit”-Gespräch über Geldpolitik und das Zusammenspiel zwischen Europäischer Zentralbank und Eurogruppe

DIE ZEIT: Herr Juncker, Deutschland erhöht nächstes Jahr die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte, bremst damit das Wachstum und erhöht die Inflation in Euroland. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat ihre Inflationsprognose auf über zwei Prozent angehoben und erhöht die Zinsen stärker als nötig. Sieht so eine gelungene makroökonomische Koordinierung aus?

Jean-Claude Juncker: Es stimmt nicht, dass wir uns in der Euro-Gruppe …

ZEIT: … dem Zusammenschluss der Euro-Finanzminister, dessen Vorsitzender Sie seit September 2004 sind …

Juncker:… nicht abgestimmt hätten. Schon während der Koalitionsverhandlungen haben die designierte Kanzlerin und der designierte Finanzminister mit mir darüber gesprochen, in mindestens zehn Gesprächen! Ich habe klar gemacht, dass für die Euro-Gruppe die Konsolidierung der deutschen Staatsfinanzen höchste Priorität hat. Es hat nie ein formales Votum der Euro-Gruppe gegeben, aber intensive Erörterungen.

ZEIT: War es denn herrschende Meinung, dass Haushaltskonsolidierung wichtiger ist als höhere Inflation?

Juncker: Ja, und zwar einstimmig. Der Mini-Inflationsschub ist doch vorübergehend. Wir schätzen ihn auf rund 0,3 Prozentpunkte für Euroland.

ZEIT: Und wie beurteilen Sie die Reaktion der EZB auf diesen Inflationsschub?

Juncker: Ich weiß, dass die EZB ihren Zinserhöhungsrhythmus schon verinnerlicht hatte, bevor es zur Ankündigung der Mehrwertsteuererhöhung gekommen ist.

ZEIT: Die Inflationsunterschiede in Euroland – vergangenes Jahr drei Prozentpunkte – bestrafen Niedriginflationsländer wie Deutschland und belohnen Hochinflationsländer wie Spanien mit geringen Realzinsen. Gibt es einen Ausweg?

“Über die nationalen wirtschaftlichen Eigenarten reden”

Juncker: Die Inflationsunterschiede machen uns keine ernsthaften Sorgen. Sie sind nicht ausgeprägter als zwischen den Einzelstaaten der USA. Zu den Schwierigkeiten der Euro-Zone gehört es, dass sie kein geschlossener Regierungsraum ist, sondern ein optimal zu koordinierender Wirtschaftsraum.

ZEIT: Wenn Ihnen die Inflationsunterschiede keine Sorgen machen …

Juncker: Ich sage nicht, dass die uns gar keine Sorgen machen. Was sehr oft übersehen wird: Die Euro-Gruppe mit der festen Präsidentschaft ist eine sehr junge, noch nicht postpubertäre Erscheinung. Wir müssen noch sehr viel übereinander und über die nationalen wirtschaftlichen Eigenarten lernen. Man darf die Gruppe noch nicht überfordern. In zwei Jahren werden wir jene Reife erreicht haben, die eine Abstimmung einfacher macht.

ZEIT: Wie viel Macht hat die Euro Gruppe?

Juncker: Die Bürger Eurolands müssen sich an den Gedanken gewöhnen, dass kein Finanzminister mehr allein Herr im eigenen Haus ist. Wir bewegen uns langsam, aber sicher auf so etwas wie eine Euro-Zonen-Wirtschafts politik zu. Heute kann jeder auf der Welt ie europäische Währungspolitik beschreiben. Die europäische Wirtschaftspolitik versteht dagegen kaum jemand.

ZEIT: Ist Ihr Vergleich der Euro-Zone mit Amerika statthaft?

Juncker: Nein, aber trotzdem muss man ihn ziehen. Der amerikanische Wirtschaftsraum hat eine mächtige Zentralregierung und, genauso wichtig, einen unendlich größeren Bundeshaushalt. Der EU-Haushalt ist dagegen mickrig, er umfasst ein Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes. Den kann man nicht unter makroökonomischen Erwägungen etwa zum Zwecke der Stabilisierung in Bewegung setzen. Das ist der wesentliche Unterschied. Deshalb müssen wir uns besser abstimmen.

“Jeder hat seine Aufgaben zu erledigen”

ZEIT: Der US-Notenbankpräsident trifft sich regelmäßig mit dem US-Finanzminister und diskutiert vertraulich über die angemessene Reaktion von Geld-, Währungs- und Fiskalpolitik auf entstehende Probleme. In Euroland forderten Sie unlängst ähnliche Treffen. Haben Sie inzwischen vom EZB-Präsidenten Jean-Claude Triebet eine Antwort auf Ihren Brief bekommen?

Juncker: Nein. Dennoch verstehe ich mich mit Herrn Triebet sehr gut. Ich kenne ihn seit 1989. Damals haben wir die Europäische Währungsunion auf den Weg gebracht. Ich erinnere mich gut, wie ich mich für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank stark gemacht habe, während Triebet als französischer Schatzdirektor dagegen Bedenken geäußert hat. Wir sind zusammen gewachsen und auch zusammengewachsen. Deshalb ist der Eindruck in der deutschen Öffentlichkeit auch nicht richtig, dass wir ein angespanntes Verhältnis hätten. Jeder hat seine Aufgaben zu erledigen.

ZEIT: Wieso wollen Sie eigentlich noch ein weiteres Treffen? Sie dürfen doch jetzt schon an allen EZB-Ratssitzungen teilnehmen.

Juncker: Stimmt. Dennoch bin ich der Auffassung, dass es über mittel- und längerfristige Probleme einen intensiveren Gedankenaustausch geben sollte. Wenn wir delikate Probleme immer in großen Gremien wie der Euro-Gruppe und dem EZB-Rat oder gar in öffentlichen Räumen diskutieren, könnte das rasch zu Verwerfungen an den Finanzmärkten führen. Deshalb ist mein Anliegen legitim, zu dritt mit dem EU-Währungskommissar in geschützten Räumen unsere Gedanken auszutauschen. Nur mit Hilfe solch intimer Treffen können wir international so auftreten, dass zwischen dem, was die EZB, und dem, was die Euro-Gruppe sagt, kein Zigarettenpapier passt.

ZEIT: Wollten Sie im April, als Sie den Brief geschrieben haben, einen Notfallplan für den befürchteten Dollar-Crash ausarbeiten?

Juncker: Nein. Es gab keinen aktuellen Bezug, nur die Sorge, dass wir uns auf dem Gebiet der Wechselkurspolitik analytisch nicht auf einer Linie befinden könnten. Ich will die Zentralbank nicht an die Kandare nehmen. Aber sie kann sich abschminken, dass sie alleine für die Wechselkurspolitik verantwortlich ist. Die gemeinsame Verantwortung steht im Vertrag von Maastricht, übrigens auf französischen Vorschlag hin. Und nebenbei gesagt wäre der Brief nicht öffentlich bekannt geworden, hätten die EU-Parlamentarier nicht bohrend gefragt. Beim nächsten Mal werde ich wohl telefonieren, weil das Briefschreiben so schwierig geworden ist.

ZEIT: Warum hat Euroland in der Weltbank und beim Internationalen Währungsfonds (IWF) nicht Sitz und Stimme?

Juncker: Der Vorsitzende der Euro-Gruppe ist bei den Treffen der G7-Finanzminister dabei. Das zeigt, dass der Rest der Welt diesen Währungsraum zur Kenntnis genommen hat. Der Vorsitzende nimmt auch an den Beratungen des IWF teil, wenngleich unter etwasartisanalen Formen.

ZEIT: Mit Rederecht?

Juncker: Ich rede da schon, sitze dabei allerdings als Vorsitzender der Euro-Gruppe auf dem belgischen Stuhl, weil Luxemburg zur von Belgien angerührten Gruppe im IWF gehört. Die Euro-Gruppe hat also als solche keinen Sitz. Deutschland oder Frankreich, die ihren eigenen Sitz haben, oder Belgien oder Finnland, die eine Sitzmannschaft anführen, tun sich schwer, auf den ihren zu verzichten. Ich dränge im Übrigen nicht darauf, dass man die Gesamtchoreografie des IWF verändern sollte. Meine internationale Erfahrung lehrt mich, dass, wenn ich etwas möchte, das andere verhindern wollen, eines Tages genau eintritt, was ich möchte.

ZEIT: Im Maastrichter Vertrag gehörte zur Schaffung der Währungsunion auch eine politische Union. Nach dem doppelten Nein der Franzosen und Niederländer rückt die weiter in die Ferne. Kann die Euro-Gruppe das politisch überbrücken?

Beeindruckende slowenische Leistung

Juncker: Der Euro wird umso stärker, je größer die Zahl der Staaten wird, die den Euro ihre nationale Währung nennen.

ZEIT: Herzlich willkommen, Slowenien!

Juncker: Slowenien hat diesen Schritt geschafft, ohne dass wir dafür durch die Finger geschaut hätten. Die slowenische Leistung ist umso beeindruckender, als der Anpassungsstress für die Slowenen maximal war. Das nimmt man mancherorts nicht einmal mehr zur Kenntnis. Wir von der westlichen Sonne Verwöhnten sollten uns in Erinnerung rufen, dass es vor 16 Jahren Slowenien als eigenen Staat nicht gab. Slowenien musste seine eigene Staatlichkeit neu erfinden. Eine unwahrscheinliche Leistung!

ZEIT: Zurück zum doppelten Nein. Was wäre ohne Euro passiert, mit Franc und Gulden?

Juncker: Welch ein Währungschaos wäre schon in der Nacht entstanden! Ich bin der Einzige, der noch dabei ist, um sich zu erinnern: Am Tage des französischen Referendums zum Maastrichter Vertrag 1992, der ja auch auf der Kippe stand, zogen wir europäischen Finanzminister uns am Rande einer Washingtoner IWF-Tagung zur Beratung zurück. Was tun, wenn es zum Nein kommt? Alle wussten damals: Dann müssen wir aus allen Finanz- und währungspolitischen Rohren schießen. Ganz anders im vergangenen Jahr: Nach dem Non und dem Nee hat es keine Sondersitzung der Finanzminister gegeben. Der Euro war robust aufgestellt. Ohne ihn wären wir von einer politischen Krise in eine lang andauernde Währungskrise geraten.

ZEIT: Das hat man vor einem Jahr nicht oft gehört.

Juncker: Mir ist unerklärlich, warum wir Finanzminister es immer noch nicht schaffen, den Menschen zu erklären, dass das europäische Währungssystem, wie es vor dem Euro organisiert war, gesprengt worden wäre – bei Beginn des Irak-Krieges, während der südostasiatischen Finanzkrise, nach dem 11. September. Das alles hätten wir nicht unbeschadet überstanden ohne den Euro. Uns allen ginge es schlechter nach diesen fünf, sechs Jahren, hätten wir die gemeinsame Währung nicht.

ZEIT: Das Vereinigte Königreich, Schweden, Dänemark haben den Euro nicht eingerührt – und wachsen alle viel besser.

Juncker: Ich wage zu behaupten, dass es allen dreien schlechter ginge ohne die stabilisierende Wirkung des Euro-Raumes.

ZEIT: Wir zahlen also durch langsameres Wachstum den Preis für diese Stabilisierung?

Juncker: Nein, die anderen wachsen mitunter schneller, weil es die Euro-Stabilität gibt.

ZEIT: Wollen wir in Euroland nicht zu viel auf einmal – Reformen, Haushaltskonsolidierung, gemeinsame Geldpolitik und Preisstabilität?

Juncker: Mit 2, l Prozent wird dieses Jahr das Wachstum so schlecht nicht sein. Und wenn es in allen Ländern solche wettbewerbsstärkenden Reformen wie in Deutschland gegeben hätte, dann stünde es um die gesamte Euro-Zone besser. Da soll man sich nicht irre machen lassen. Solche Verbesserungen im Wettbewerb drücken sich nicht sofort in Wachstumszahlen aus.

ZEIT: Selbst Bundesbankchef Axel Weber sagt, dass Strukturreformen anfangs Wachstumspunkte kosten. Und auch von der Konsolidierung der Haushalte und der Währungsunion her nehmen wir das Wachstum in die Zange.

Juncker: Die Frage stellt sich. Wir werden im Kreis der Finanzminister im Herbst über Zeitpläne debattieren. Also über die richtige Reihenfolge von Strukturreformen, Haushaltskonsolidierung, Inflationsbekämpfung, Preissteigerungen in Dienstleistungsbereichen, die Arbeitsmärkte. Das alles wird zunehmend nicht nur als ein wirtschaftliches Problem begriffen, sondern auch als ein Problem der politischen Akzeptanz. Die Abfolge muss nicht in jedem Land gleich aussehen. Aber das alles
bedeutet Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Intimbereich der Euro-Zone.

Jean-Claude Juncker

Historisch betrachtet ist Jean-Claude Juncker zweifelsohne »Monsieur Euro«: Mit seinen nur 51 Jahren ist Luxemburgs Regierungschef bereits der dienstälteste Premier und-per Amtsunion-der erfahrenste Finanzminister in der EU. »Herr Präsident«, wie sie ihn daheim nennen, sitzt als Finanzminister seit 1989, als Chef seit 1995 im Kabinett. Juncker rettete 1991 bei den Verhandlungen zum Maastrichter Vertrag die Währungsunion vor dem britischem Veto, formulierte 1996 in Dublin den Kompromiss zwischen Franzosen und Deutschen, der den Euro-Stabilitätspakt ermöglichte, und tüftelte 2005 jene Formel aus, die den Pakt erfolgreich reformierte. Kurz zuvor hatten ihn die Finanzminister der Euro-Gruppe für zwei Jahre zu ihrem ersten Vorsitzenden gekürt. In diesem Sommer endet sein Mandat – Zeit für eine Bilanz und Analyse.

Quelle: Die Zeit, 20. Juli 2006, JOACHIM FRITZ-VANNAHME, ROBERT VON HEUSINGER