Juncker: Noch ist die Krise nicht überwunden

Interview nach dem EU-Gipfel: Luxemburgs Regierungschef fordert politisches Umdenken in Europa
Der EU-Finanzplan für die Jahre 2007 bis 2013 steht. Doch für Jean-Claude Juncker ist damit die Krise Europas längst nicht überwunden. Im “Wort”-Interview nach dem Gipfel fordert er ein politisches Umdenken. “Die Menschen müssen merken, dass sie von der Europapolitik ernst genommen werden”, so der Premierminister.

D’Wort: Bis kurz vor drei Uhr wurde in der Nacht zum Samstag verhandelt. Warum dauerte die Suche nach einem Kompromiss derart lange?

Jean-Claude Juncker: Das lag am britischen Ratsvorsitz, der erst ganz zum Schluss die Bereitschaft erkennen ließ, sich zu bewegen. Dann kamen die letzte entscheidende Runde und der Kompromiss. Dieser liegt sehr nahe an unserem ursprünglichen Vorschlag. Was nicht nur wir ausdrücklich begrüßt haben.

D’Wort: Sie ließen bei Ihrer Pressekonferenz nach den Beratungen in Brüssel durchblicken, die Finanzperspektiven könnten nun noch vom Parlament nach oben angepasst werden. Droht etwa ein neuer Streit?

Jean-Claude Juncker: Die Finanzplanung ist eine Domäne, die den Spielregeln der Mitentscheidung unterliegt. Das heißt, dass beide Seiten – Rat und Parlament – sich eins sein müssen. Sonst kann es keine Einigung geben. Demnach ist nun die österreichische Präsidentschaft gefordert.

D’Wort: Wann ist mit einer endgültigen Lösung zu rechnen?

Jean-Claude Juncker: Das kann ich Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Was ich weiß, ist, dass die österreichische Seite schon Anfang Januar die Verhandlungen mit dem Europaparlament aufnehmen wird.

D’Wort: Bleiben wir bei den zurückbehaltenen Finanzperspektiven. Was wird sich für Luxemburg ändern?


Jean-Claude Juncker:
Um es klarzustellen: Der Kostenpunkt des finalen britischen Vorschlags liegt dem, was wir im Juni geplant hatten, nicht weit aus den Füßen. Was nun Luxemburg angeht, so haben wir es in der letzten Verhandlungsrunde fertig gebracht, eine 40prozentige Kürzung der Mittel für die Entwicklung im ländlichen Raum zu verhindern. Zurückbehalten wurde eine unwesentliche Kürzung von um die zwei Millionen Euro über sieben Jahre.

D’Wort: Wie beim Juni-Gipfel traten die zehn neuen EU-Länder auch jetzt in Brüssel mit gemeinsamen Initiativen auf. Sie haben diese Staaten tatkräftig unterstützt.


Jean-Claude Juncker:
Ja, weil ich der Meinung bin, dass ein Kompromiss zu Lasten dieser Länder ein klarer Bruch mit dem europäischen Solidaritätsgedanken gewesen wäre. Mit dieser Meinung stehen wir nicht alleine da. Auch Deutschland argumentierte beispielsweise in diese Richtung. Wäre es in Brüssel zu Kürzungen der Kohäsionsmittel gekommen, wie die Briten es wollten, hätte das natürlich auch zu Ressentiments mit nachhaltiger Wirkung in Mittel- und Osteuropa geführt. Und das wiederum hätte Europa und die Integration sicher nicht vorangebracht.

D’Wort: Nun hört und liest man überall, eine deutsche Initiative sei entscheidend für den Durchbruch gewesen. War das Agieren von Kanzlerin Angela Merkel so entscheidend?

Jean-Claude Juncker: Die Initiative, die Frau Merkel in die Diskussion einbrachte, kam von fünf Ländern, darunter auch Luxemburg und Frankreich.

D’Wort: Ebnet der Durchbruch bei den Finanzperspektiven nun den Weg für andere wichtige Reformen in der Union? Stichwort Verfassungsvertrag!


Jean-Claude Juncker:
Im Falle einer Nichteinigung hätte sich die Krise, in der die EU steckt, sicherlich vertieft. Nun haben wir etwas mehr Luft, um uns mit den eigentlichen Problemen Europas zu beschäftigen. Nur sollte man aus dem Finanzkompromiss nicht schließen, die Krise sei überwunden. Das wäre vermessen. Wir müssen die Krise weiter behandeln.

D’Wort: Mit welchen Mitteln und Rezepten?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen Entscheidungen nehmen, die das Leben der Menschen direkt betreffen. Die Menschen müssen merken, dass sie von der Europapolitik ernst genommen werden.


Die Fragen stellte Marc Glesener

Quelle: d’Wort vom 19. Dezember 2005