Astrid Lulling: “Viele Köche verderben den Brei”.
“Viele Köche verderben den Brei”. Diese Befürchtung ist bezüglich des Verfassungsvertrags jetzt hinfällig. Der vorliegende Text, den während zwei Jahren 105 Konventionelle ausarbeiteten, die Tausende aus der Zivilgesellschaft zu Wort kommen liessen, und an dem anschliessend 25 Regierungen noch während Monaten herumbastelten, ist sicher keine Revolution. Aber er ist ein wichtiger Schritt für die Weiterentwicklung der europäischen Integration.
Obschon keine richtige Verfassung, besteht der Vertrag im Kern aus einer Verschmelzung des EU- und des EG-Vertrages sowie aus der Grundrechte-Charta. Es ist vor allem gelungen, die Kompetenzaufteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union eindeutig festzulegen. Das ist für mich ausschlaggebend. Ich bin weder himmelhoch jauchzend noch zu Tode betrübt, kann aber guten Gewissens ein Ja beim Referendum am 10. Juli 2005 empfehlen. Dies umso mehr, weil ich, entgegen anderen, keine überhöhten Erwartungen an einen Text knüpfe, der sowieso die komplexen Probleme, mit denen wir zur Zeit in Europa konfontriert sind, nicht zu lösen vermag.
Viel besorgniserregender ist für mich zur Zeit der offensichtliche Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, europäisch wie national.
Es gilt, unter Luxemburger Präsidentschaft zu verhindern, dass wir bei der Ausarbeitung europäischer Gesetze vornehmlich rot-grünen Ideologen auf den Leim gehen. Deren diesbezüglich fragwürdige Rezepte riskieren, die Stahl- und Chemieindustrie, d.h. für Luxemburg u.a. Arcelor, Dupont de Nemours, Good Year, aber auch kleine Industriebetriebe, die bei uns bleiben wollen, aus Europa zu vertreiben. Es darf auch nicht so weit kommen, dass mit der Komplizität einer kuriosen Mehrheit im Europäischen Parlament, Banken und andere Finanzdienstleister uns den Rücken kehren, weil das gesetzliche Umfeld für ihren Verbleib keinen Anreiz mehr bietet. Fundamentale Werte, wie die unverletzlichen Rechte der Menschen, Demokratie, Gleichheit, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in einem Vertrag festzuschreiben, ist unabdingbar. Aber auch das wirtschaftliche, oekologische und soziale Umfeld, fussend auf einer wohlverstandenen Solidarität, muss stimmen, um die Bürger für eine Europäische Union, als Schicksalsgemeinschaft mit der ihr eigenen Identität, zu begeistern.
Astrid Lulling, Europadeputierte