Erna HENNICOT-SCHOEPGES: “Selten gab es in der europäischen Geschichte innerhalb eines Jahres so viel Anlass zur Freude.”
Selten gab es in der europäischen Geschichte innerhalb eines Jahres so viel Anlass zur Freude: Sowohl mit der Ost-Erweiterung, dem Vertrag über eine Verfassung für Europa als auch dem Beschluss, Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei aufzunehmen, haben sich Visionen erfüllt, die noch vor wenigen Jahren kaum jemand zu träumen gewagt hätte. Frei nach Bismarck liesse sich nun optimistisch schlussfolgern, man habe Europa in den Sattel gesetzt, reiten wird es schon können. Nur wohin?
Wenn man in diesem Zusammenhang die europäische Verfassung als Zügel für ein sehr bockiges Pferd begrüssen darf, bleibt die Frage offen, von welchen Grundsätzen es gelenkt werden soll. Wer die Diskussionen während des Verfassungskonvents verfolgt hat, musste sich wundern, wie schnell, ja beiläufig alle Fragen nach europäischer Identität beiseite gedrückt wurden.
Europa leistet sich einen hocheffizienten Verwaltungsapparat, verzichtet jedoch auf eine aussagekräftige Kulturpolitik – ein Luxus, dessen wir uns schnellstmöglich bewusst werden sollten. Das Schweigen der Verfassung zu diesem Thema spricht Bände über das Selbstverständnis unserer Institutionen. In diesem Zusammenhang gewinnen Initiativen wie die von privater Seite ins Leben gerufene und von internationaler Politprominenz hofierte Berliner Konferenz Anfang Dezember an Gewicht. Sie weisen uns den richtigen Weg, um Europa eine Seele zu geben. Hierzu werden wir jedoch auch ein gesundes Selbstvertrauen in unsere Werte und Traditionen benötigen – die Errungenschaften der Aufklärung auf dem Fundament christlicher Ethik haben an unserem Leben in Frieden, Freiheit und Gleichberechtigung entscheidenden Anteil gehabt. Die europäische Art, Konflikte zu lösen und Antworten auf die Fragen unserer Zeit zu geben, muss sich nicht verstecken.
Sowohl die Ost-Erweiterung als auch die Debatte um die europäische Verfassung haben eine längst überfällige Debatte über die zukünftige Form der Union losgetreten. Das wachsende Interesse Westeuropas an seinen östlichen Nachbarn lässt hoffen, dass aus der breiten Diskussion auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Kultur und Eigenschaften unserer Nachbarn werden wird. Denn nur das bessere Verständnis der Völker Europas wird ihre Verständigung wirklich ermöglichen, die wichtigste Voraussetzung für den Erhalt des blühenden Gemeinwesens, zu dem Europa in den letzten Jahrzehnten herangewachsen ist. Europas Grenzen verlaufen nicht an Meeresufern, Flussläufen oder Gebirgsketten, sondern in den Köpfen seiner Bürger. Das zu erkennen ist ein wichtiger Schritt zur Integration und zur Schaffung einer wahrhaft europäischen Identität. Die europäische Verfassung wird ein wertvolles Instrument in diesem Prozess sein, mit Leben müssen wir ihn selbst füllen.
Erna Hennicot-Schoepges, CSV-Europadeputierte