Eine europäische Erfolgsgeschichte

Morgen wird die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union Realität

Morgen wird die größte Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union Realität. Es ist nicht nur die geografisch umfangreichste Erweiterung, die seit der Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 stattfindet; nein, es ist auch bei weitem die politisch bedeutungsreichste Vergrößerung des gemeinschaftlichen Europas, die jemals vollzogen wurde. Morgen wird, zum ersten Mal nach über 400 Jahren, Europa in Frieden und Freiheit vereint.

Neue gemeinsame Grenzen

Samstag früh erwachen wir in einer Union, die sich bis tief in das Territorium der früheren Sowjetunion erstreckt. Die Union, in der wir am 1. Mai frühstücken, besitzt gemeinsame Grenzen mit Weißrussland, der Ukraine, Rumänien und Kroatien. In den verwinkelten Gassen der baltischen Hauptstädte Tallinn und Vilnius werden morgen Nachmittag Unionsbürger spazieren gehen. Die Donau, der europäische Fluss schlechthin, wird bis zur ungarisch-serbischen Grenze durch Unionsländer fließen.

Als die EGKS 1951 das Licht der Welt erblickte, regierte Iossif Stalin noch in Moskau. Europa war getrennt, und der Eiserne Vorhang, von dem Winston Churchill 1946 in seiner berühmten Züricher Rede gesprochen hatte, hing bleiern und undurchlässig zwischen den Europäern im Westen und im Osten unseres Kontinents. Nach über 50 Jahren europäischer Integrationsgeschichte, 15 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer und gut ein Dutzend Jahre nachdem die sowjetische Flagge an Weihnachten 1991 über dem Kreml eingeholt wurde, um nie wieder aufgezogen zu werden, wird morgen diese unnatürliche Trennung Europas definitiv und unwiderruflich überwunden sein. Europa wird wieder Eins. Der 1. Mai 2004 ist ein Tag, der in den Geschichtsbüchern einen wichtigen Platz einnehmen wird. Für die Europäer ist er ein Tag der Freude.

Der Euro, ein durchschlagender Erfolg

Europa beweist aufs Neue, dass es zu Großem fähig ist. Die Einführung des Euro wurde angezweifelt, bis die Menschen in der Eurozone am 1. Januar 2002 tatsächlich Euro-Scheine und -Münzen in ihren Händen hielten. Kaum einer wollte vor dem 1. Januar 1999, als die Wechselkurse unwiderruflich festgelegt und der Überweisungseuro als Zahlungsmittel eingeführt wurde, glauben, dass er in 12 von 15 Mitgliedsstaaten der Union Gültigkeit haben würde. Und doch wurde der Euro ein durchschlagender Erfolg.

Bei der Erweiterung war es ähnlich: am Anfang der Diskussionen und Verhandlungen wollte kaum einer glauben, dass wir eine große Beitrittsrunde erleben würden, und schon gar nicht bereits 2004. Und wie beim Euro mussten sich die Skeptiker schlussendlich der Erkenntnis beugen, dass Europa in wesentlichen Fragen sehr viel leistungsfähiger ist, als die ewig Gestrigen ihm zutrauen.

Die Erweiterung wird nicht ohne Mehrausgaben für Europa zu haben sein. Doch wie stünde die Europäische Union vor der Geschichte da, wenn die Erweiterung sich als Stolperstein für die Fortführung der gemeinschaftlichen Politiken erweisen würde, nur weil einige europäische Staaten nicht bereit sind, den Unionshaushalt über die Proportion von 1% des Bruttoinlandsprodukts der Mitgliedsstaaten anwachsen zu lassen?

Gestaltungswillen europäischer Politiker gefragt!

Dieser Haushalt macht nur rund ein fünftel desjenigen der Bundesrepublik Deutschland aus! Wollen wir die notwendige wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung der neuen Mitglieder versumpfen lassen, bloß weil die aktuellen Nettozahler sich über Zusatzbeiträge von einigen Zehntelprozent – so etwas nennt man auch Promille – streiten? Eine solche Feilscherei wird dem Auftrag, den die Erweiterung an den Gestaltungswillen europäischer Politik stellt, nicht gerecht. Der Erfolg der Erweiterung darf durch solche Milchmädchenrechnungen nicht aufs Spiel gesetzt werden!

Morgen werden durch die Erweiterung die europäischen Uhren neu gestellt, der Kompass der europäischen Integration neu ausgerichtet. Wir müssen mit aller Kraft dafür sorgen, dass ab übermorgen auch die Konsequenzen aus der Erweiterung gezogen werden, für die europäischen Politiken und ihre Finanzierung. Für alles andere müssten sich die heutigen Mitgliedsstaaten der Union schämen!

Jacques Santer