Wie die Parteien mit dem gesellschaftlichen Wandel mithalten können
Während die Gesellschaft im ständigen Wandel ist, hinken die Parteien hinterher. Was sich ändern muss – eine Analyse von Gastautor Marc Spautz im Luxemburger Wort.
Eine Gesellschaft entwickelt sich unaufhörlich weiter. Unter anderem halten technischer Fortschritt, wirtschaftliche Umbrüche, Ereignisse der Weltpolitik und unvorhersehbare Krisen die Gesellschaft in Bewegung. Die Bedürfnisse und die Gewohnheiten der Bürger sowie ihre gesellschaftspolitische Mentalität verändern sich dadurch stetig und damit auch die Erwartungshaltung an Politik und Parteien. Für diese besteht die wohl größte Herausforderung darin, mit dem stetigen Wandel der Gesellschaft Schritt zu halten und ihn konstruktiv zu begleiten. Sie müssten sich dafür regelmäßig hinterfragen.
Die Demokratie in Luxemburg beruht auf dem Willen des Volkes, das via Wahlen seine Vertreter aufgrund der Kandidatenlisten der Parteien für fünf Jahre bestimmt. Luxemburg hat sich auch in seiner überarbeiteten Verfassung 2023 darauf festgelegt, dass die politische Vertretung des Volkes über den Weg der politischen Parteien geschieht und damit die Parteiendemokratie festgeschrieben.
Die Parteien stehen vor einer großen Verantwortung. Sie sind es, die mit ihren Ideen, mit ihrer Programmatik und mit ihrer konkreten Politik jenen Einfluss ausüben sollen, der späterhin im Alltag für jeden erlebbar und spürbar wird. Es sind auch die Parteien, die den Meinungsbildungsprozess bestimmen sollen.
Traditionelle Parteien bekommen Konkurrenz
Sieht man sich in der Parteienlandschaft Luxemburgs um, wird erkennbar, dass sich auch hierzulande die traditionellen Parteien einer neuen, verstärkten Konkurrenz stellen müssen. Sie haben über die letzten Jahrzehnte an Zustimmung in der Bevölkerung verloren, fanden offensichtlich auf bestimmte Wünsche, Zweifel oder Ängste nicht die richtigen Antworten. Das hat zur Bildung neuer Parteien geführt.
Dazu kommt, dass die Parteienbindung abnimmt – immer weniger Menschen identifizieren sich ein Leben lang mit einer bestimmten Partei. So mancher wählt den Protest gegen die traditionellen Parteien, hat sein Vertrauen in deren Lösungsfindung für seine Sorgen verloren.
Der verstärkte Einfluss der sozialen Medien fördert diese Entwicklung. Die Flut an Informationen, die Gerüchte, die Falschmeldungen, die dort zirkulieren, bestimmen immer mehr die generelle Meinungsbildung. Nicht zuletzt muss mit sachlichen Argumenten reagiert werden, bevor falsche Narrative sich verfestigen. Oftmals bleibt dennoch ein gewisses Misstrauen gegenüber der Politik bestehen.
Auch die politische Opposition nutzt zunehmend die sozialen Medien, um sich direkt an die Wähler zu wenden. Die klassischen Medien, deren Rolle es ist, politische Äußerungen kritisch zu hinterfragen, die Fakten zu checken und Aussagen in den richtigen Kontext zu stellen, werden auf diese Weise umgangen. Immer öfter trifft man auf Social Media-Inhalte von Parteien, die es mit den Fakten nicht mehr so genau nehmen.
Volksparteien sind wichtig für die Demokratie
Luxemburgs Politikwelt ist bislang noch verschont geblieben von Entwicklungen, wie man sie in den Nachbarländern beobachten kann: Die Parteien der politischen Mitte werden geschwächt, Volksparteien lösen sich auf, die extremen Ränder gewinnen an Einfluss – die Gesellschaft spaltet sich. Mit dem Resultat, dass es immer schwieriger wird, stabile Regierungsmehrheiten zu bilden, die sich auf mehr als den geringsten Nenner einigen können. In Deutschland ist die Dreierkoalition, die sogenannte Ampel-Regierung, gescheitert; Belgien konnte nach fast 200 Tagen noch immer keine Regierung bilden; Frankreich versucht, mit Minderheitsregierungen zu arbeiten; in den Niederlanden fällt es schwer, überhaupt noch Kompromisse zu finden.
Die Wichtigkeit von Volksparteien für die Stabilität einer Parteiendemokratie kann nicht genug betont werden: Sie waren stets fähig, eine breite Wählerschaft anzusprechen – nicht zuletzt, weil sie es durch lebendige, interne Debatten fertigbringen, einen Konsens zwischen den verschiedenen Interessen zu finden. Dafür müssen sie sich aber auch bemühen, möglichst die Bandbreite der Gesellschaft abzubilden und alle Gesellschaftsschichten in ihren Gremien vertreten zu haben.
Das Luxemburger Parlament mit seinen 60 Abgeordneten ist seit längerem weit davon entfernt, ein Spiegelbild, ein Querschnitt der Luxemburger Bevölkerung zu sein. Sieht man sich den sozio-professionellen Hintergrund der Abgeordneten an, so sind verschiedene Berufsgruppen, vor allem manuelle und Angestellte, überhaupt nicht vertreten, und auch die Frauen sind gegenüber ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert.
Wie repräsentativ sind die Parteien noch?
Setzt sich ein Parlament aus Bevölkerungsschichten zusammen, die nicht die Mehrheit unserer Gesellschaft widerspiegeln, die riskieren, in ihrer Blase zu leben und eine Sprache zu sprechen, die fern von weiten Teilen der Bevölkerung ist, dann besteht auf Dauer eine Gefahr für die Demokratie. Es müssen Entscheidungen über Sachverhalte getroffen werden, die jenseits aller Lebenserfahrungen und Sorgen dieser Abgeordneten liegen.
Ein Parlament kann wohl über Hilfen für bestimmte Gesellschaftsgruppen entscheiden und Maßnahmen treffen. Wird in anderen Politikfeldern, die nicht direkt mit diesen Hilfen zu tun haben, aber den Interessen dieser Personengruppen auch Rechnung getragen? Wie wirkt sich beispielsweise die Wirtschaftspolitik auf alle Teile der Bevölkerung aus? Wie die Kulturpolitik, die Gesundheitspolitik, die Gesellschaftspolitik, etc.?
Luxemburg ist keine Insel der Glückseligen. Die steigende Nichtbeteiligung an den Wahlen trotz Wahlpflicht in Luxemburg müsste bei allen demokratischen Parteien die Alarmglocken schrillen lassen. Hat es auch damit zu tun, dass viele sich nicht mehr von den Parteien repräsentiert fühlen? Dass die Parteien nicht jene Vertreter in ihren Reihen haben, mit denen sie sich identifizieren können? Dass die Programme der Parteien nicht ihre Lebensrealität widerspiegeln, nicht jene Lösungen anbieten, die ihnen das Leben erleichtern?
Unsere Demokratie ist auf die Akzeptanz in der Bevölkerung angewiesen. Wenn das Vertrauen in die Parteien schwindet, weil sie nicht als repräsentativ angesehen werden, dann schwindet auch die parlamentarische Demokratie. Darüber müsste in den Parteien – zumindest in jenen, die sich nicht als eine reine Klientelpartei verstehen – debattiert werden.