Die aktuelle „forum“ Ausgabe dreht sech rund um die anstehende Verfassungsreform. In einem Interview steht „der erster Bürger des Landes” dem „forum“ Rede und Antwort über Zweckmäßigkeit einer Volksbefragung und die Bedeutung des Dialogs zwischen Politikern und Bürgern. So hat die „Chamber“ einiges geplant, um diesen Austausch vor allem über das Internet zu fördern.
Die Mitglieder der Verfassungsrevisionskommission waren von vornherein darauf bedacht, bei jedem Artikel eine Zweidrittelmehrheit zu erzielen. Hat diese Strategie des Konsens die Möglichkeit weitsichtiger, prospektiver Debatten nicht bereits zu Beginn im Keim erstickt?
Laurent Mosar: Die Verfassungsgeschichte zeigt uns, dass Verfassungsänderungen sowohl in Luxemburg als auch in vielen anderen Ländern seit jeher mit einer speziellen Mehrheit verabschiedet werden. Es geht darum, einen größtmöglichen Konsens in diesen für die Bürger doch imminent wichtigen Rechtsgrundsätzen zu erzielen. Es ist deshalb für mich unerlässlich, dass Verfassungsänderungen nicht ausschließlich mit den Stimmen der Mehrheitsparteien angenommen werden, sondern darüber hinaus auch zumindest von einem Teil der Opposition mitgetragen werden. Ich bin darum der Meinung, dass es genau diese Zweidrittelmehrheit ist, die es ermöglicht, möglichst verschiedene gesellschaftliche Meinungsströmungen in die verfassungsrechtliche Wahrheitsfindung mit einzubeziehen. Von einem demokratischen Standpunkt aus betrachtet, geht eine solche konsensuelle Sichtweise also voll in Ordnung.
In Island werden zurzeit neue inklusivere Modelle in der Ausarbeitung von Verfassungen erprobt: der Verfassungstext kann dort über "crowdsourcing" kollektiv bearbeitet werden und die Arbeiten der Verfassungskommission können im Live-stream, auf Youtube und über Facebook oder Twitter verfolgt werden. Die Art und Weise, die Verfassung exklusiv über Parlamentskommission und Staatsrat ausarbeiten und diskutieren zu lassen, wirkt demgegenüber seltsam antiquiert.
Laurent Mosar: Ich bin nachhaltig der Meinung, dass wir dem permanenten Dialog mit den Bürgern eine wesentlich größere Bedeutung beimessen müssen. Die Politik im Allgemeinen, aber auch und ganz besonders das Parlament sollten regelmäßig mit der Zivilgesellschaft, z. B. bei öffentlichen Hearings, über die für unser Land wesentlichen Zukunftsthemen diskutieren. Die Abgeordnetenkammer setzt sich deswegen ständig mit ihrer Arbeitsweise auseinander, analysiert, ob diese den gesellschaftlichen Änderungen noch angepasst ist und hält Ausschau nach Alternativmodellen. Genau aus diesen Überlegungen heraus hat die Abgeordnetenkammer in den letzten Monaten ihre Arbeitsweise im Rahmen des Lehrstuhls für parlamentarische Studien an der Universität Luxemburg beleuchtet. Des Weiteren werden wir in den nächsten Monaten die öffentliche Petition mit integriertem Diskussionsforum über unser Internerportal chd.lu einführen, um jedem Bürger damit die Möglichkeit zu bieten, sich regelmäßig mit den Abgeordneten über aktuell-politische nationale Themen auszutauschen. Das von Ihnen angesprochene Modell des "crowdsourcing" wird Ende September im Beisein der Abgeordnetenkammer im Comité à la simplification administrative vertieft werden. Es handelt sich hier um eines dieser neuen Modelle, mit denen sich unser Parlament unweigerlich auseinandersetzen muss und wird. Gegen den Fakt, dass über diese Wege die Ideen der Bürger mit einfließen und dadurch eine direkte Partizipation der Bürger gefördert wird, ist sicherlich prinzipiell nichts einzuwenden. Jedoch bleiben, besonders in Sachen Verfassungsreform, die Diskussionen und Gedankenaustausche zwischen Parlament, Regierung und Staatsrat von größter Wichtigkeit, da die Verfassung ein Ganzes darstellt und nicht einfach aus einer Addition von verschiedenen Meinungen bestehen kann, sondern einen kohärenten und juristisch korrekten Text darstellen muss. In einer Verfassung hat jedes einzelne geschriebene Wort eine grundlegende Bedeutung und muss wohl überlegt sein, da die Konsequenzen für die Institutionen, für das institutionelle Gleichgewicht und für den einzelnen Bürger beachtlich sein können. Ein breit angelegter Dialog mit dem Bürger, nach dem isländischen Modell, scheint mir in Sachen Verfassung, wo es gilt einen ausgewogenen einheitlichen Text aufzustellen, ein nicht ganz problemloses Unterfangen darzustellen.
Wäre nicht ein Referendum ein gutes Mittel, um eine offene gesellschaftliche Debatte anzustoßen? Und wie sollte die Referendums-Frage formuliert werden: soll es verschiedene Alternativen geben oder wird es wie 2005 wieder zu einem "Bürger friss oder stirb "kommen?
Laurent Mosar: Wir verschließen uns sicherlich nicht einer breit geführten gesellschaftlichen Debatte über die verschiedenen verfassungsrelevanten Themen. Ich bleibe jedoch nachhaltig der Meinung, dass die Entscheidung über ein Referendum sehr gut überlegt werden muss. Das Referendum über den Europäischen Verfassungsvertrag hat uns die Grenzen, aber auch die Risiken einer Volksabstimmung vor Augen geführt. Ist bei einer groß angelegten Verfassungsreform ein Referendum das ideale Instrument für eine bessere Einbindung der Bürger in die Entscheidungsprozedur? Referenden sind vor allem sinnvoll, wenn man auf eine präzise formulierte Frage eine klare Antwort von den Bürgern erwarten kann. Ein Referendum à la carte, mit Alternativantworten zu verschiedenen Themengebieten, scheint mir bei der Fülle der geplanten Verfassungsänderungen problematisch. Allerdings plädiere ich dafür, dass im Vorfeld einer solchen parlamentarischen Verfassungsreform eine möglichst breite Debatte in der Gesellschaft stattfindet, die weit über die Grenzen des Parlamentes geht, die aber vom Parlament mit initiiert und organisiert werden sollte.