„Solidaritätsgedanke ist weniger stark ausgeprägt”

Heute wird Ehrenstaatsminister Jacques Santer 75 Jahre alt. Im Interview mit dem Luxemburger Wort blickt er auf seine lange politische Karriere zurück und nimmt Stellung zu den aktuellen Entwicklungen.

Herr Santer, in Ihrer politischen Karriere hatten Sie eine ganze Reihe von Ämter inne. Welche Aufgabe hat Ihnen rückblickend am meisten Spaß gemacht?

Das ist schwer zu sagen. In allen Amtern gab es prägende Momente. Als ich Staatsekretär im Arbeitsund Sozialministerium war, konnten wir 1973 die Mitbestimmungsgesetzgebung durchsetzen. Die Mitbestimmung war am Anfang sehr stark umstritten, machte letztendlich allerdings die Tripartite und somit auch das Luxemburger Modell erst möglich. In meiner Zeit als Finanzminister sticht die Rentenreform heraus. Auch sie wurde zunächst heftig kritisiert, allerdings hat das Finanzierungsmodell bis heute Bestand. Das bedeutendste Ereignis in meiner Zeit als EU-Kommissionspräsident war sicherlich die Einführung des Euro als gesetzliche Buchungswährung am 1. Januarl999. Andere wichtige Aufgabengebiete waren die Vertiefung des Binnenmarkts und die EU-Erweiterung.

Und welches Amt hat Ihnen am meisten abverlangt?

Das wohl schwierigste Amt war das des EU-Kommissionsvorsitzenden. Als Präsident der Kommission trägt man nicht nur die Verantwortung für ein Land, sondern für ganz Europa. Da ist man fast Tag und Nacht im Einsatz. • Was war der schwierigste Augenblick in Ihrer Karriere? Die meisten Sorgen habe ich mir gemacht, als mich der damalige Arbed-Direktor Emmanuel Tesch an einem Freitagnachmittag anrief und mir mitteilte, dass der Stahlkonzern 23 Milliarden Franken brauchen würde, um zu überleben. Sogar die Auszahlung der Löhne war damals in Gefahr. Erschwerend kam hinzu, dass die staatliche Trsorerie zu der Zeit nicht über die gleichen Reserven verfügte wie heute. Das war die größte Herausforderung, die ich in meiner Karriere, zu bewältigen hatte. In dem Moment habe ich mich wirklich gefragt, wie das Land über die Runden kommen soll. Rechnet man alle flankierenden Maßnahmen hinzu, belief sich der Einsatz des Staates am Ende auf 40 Milliarden Franken. Im Vergleich dazu waren alle Rettungsmaßnahmen von heute eigentlich Peanuts. Doch wir haben es geschafft.

• Apropos Stahlkrise: Wie ist es bei der Bewältigung der heutigen Krise Ihrer Meinung nach um den Solidaritätsgedanken in Luxemburg bestellt?

Luxemburg ist heute ein ganz anderes Land als zu Zeiten der Stahlkrise. Das Großherzogtum hat sich in den vergangenen 25 Jahren grundlegend verändert. U. a. ist das soziale Gefüge ein ganz anderes geworden, die wirtschaftlichen Bedingungen haben sich verschoben, auch die Gewerkschaften sind heute ganz anders aufgestellt als noch vor 25 Jahren. Leider hat die Solidarität im Zuge dieser Entwicklung, bedingt durch die soziologische Entwicklung, abgenommen. Der Solidaritätsgedanke ist heute weniger stark ausgeprägt, deshalb bin ich auch etwas besorgt, was, die Eigenarten des Luxemburger Modells anbelangt.

• Was würden Sie aus heutiger Sicht anders machen?

Als EU-Kommissionsvorsitzender hätte ich mich in der Affäre um die Korruptionsvorwürfe anders verhalten sollen. Ich hätte mich persönlich stärker einbringen müssen, anstatt meinen Kommissaren so viel Vertrauen zu schenken. Ich hätte es nicht soweit kommen lassen dürfen. Ich würde mich aber auch stärker mit den Medien auseinander setzen, ich habe die Wirkung der Berichterstattung unterschätzt. Im Nachhinein ist man allerdings immer klüger.

• Zur Rolle der Medien. Die Medien haben sich grundlegend verändert. Dadurch ist das politische Leben viel schnellebiger geworden. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?

Die Entwicklung ist nicht in allen Punkten positiv. Die Medien treiben die Politik zum Teil vor sich her. Heute erhält man eine Mail und ist gezwungen, sofort zu reagieren. Früher hat man einen Brief erhalten und als Politiker hatte man drei bis vier Tage Zeit zum Nachdenken. Man konnte sich in Ruhe seine Gedanken machen. Dadurch war der Druck nicht ganz so groß. Allerdings bekommen auch die internationalen Aktivitäten immer mehr Gewicht. Übrigens ist es uns früher auch gelungen, das Land ohne Internet und Facebook zu regieren.

• Wenn man über das Internet spricht, kommt man im Moment nicht an der Piratenpartei vorbei.

Auch wenn man zurzeit bei den Piraten noch kein klares Programm erkennen kann, sollten wir diese Entwicklung ernst nehmen. Auch die Occupy-Bewegung oder die Demonstrationen der Jugend in Spanien sollten die etablierten Parteien nicht unterschätzen. Sie sind eine Art Auffangbecken für den Protest. Früher haben Parteien wie etwa die KP diese Rolle neben den etablierten Parteien übernommen. Der Protest äußert sich heute anders, auch in Luxemburg. Die Gewerkschaften haben z. B. heute nicht mehr die selbe Funktion wie noch vor 25 bzw. 30 Jahren. Auch ihre Strukturen sind nicht mehr die gleichen. Sie zählen heute viel mehr Ausländer in ihren Reihen. Wie ich bereits gesagt habe, unser Land ändert sich rasant, es gibt große soziologische Veränderungen in der Gesellschaft.

• Angesichts der Sparmaßnahmen kommen weitere Veränderungen auf uns zu. Reicht das Maßnahmenpaket Ihrer Meinung nach aus, um das Land aus der Krise zu führen?

Ich will mich grundsätzlich nicht einmischen. Ich bin allerdings überzeugt, dass wir langsam wieder zu einer sozialen Marktwirtschaft zurückfmden müssen, das ist der richtige Weg. Eine effiziente Wirtschaftspolitik ist natürlich wesentlich, vor allem als Basis für eine gute Sozialpolitik. Allerdings darf die Wirtschaftspolitik der Sozialpolitik nicht übergeordnet sein. Der Stellenwert des Menschen muss immer im Vordergrund stehen. Bei dem Zusammenspiel zwischen ausgeglichenen Staatsfinanzen und einer wirkungsvollen Investitionsund Wachstumspolitik handelt es sich immer um einen Spagat. Genau so ist es auch in den Krisenländern wie etwa Griechenland. Man muss den Ländern eine Chance geben, damit sie wieder auf die Beine kommen. Man darf das Kind nicht mit dem Bad ausschütten. Auch hier geht es um Solidarität, sonst werden die Maßnahmen nicht von der Gesellschaft getragen.

• Wie kann dem griechischen Patienten denn geholfen werden?

Griechenland ist natürlich ein extremer Fall. Ich erinnere daran, dass wir als EU-Kommission Griechenland 1999 nicht in den Euro-Raum aufgenommen haben; mein Nachfolger. war da etwas großzügiger. Für mich gründet das eigentliche Problem darin, dass sich die Entscheidungsfindung schon viel zu lange hinzieht. Der. Fall Griechenland wird ja nun schon seit über zwei Jahren behandelt.. Da müssen die Märkte zwangsläufig nervös reagieren. Die Lage in Athen zeigt aber auch, dass Fehler von gestern zwangsläufig in Krisen münden. Nach Maastricht 1992 wurde zwar eine Währungsunion geschaffen, Europa bekam aber weder eine Wirtschaftsunion noch eine politische Union. Die Erbsünde war somit schon im Maastricht-Vertrag enthalten. Mit der Fiskalunion werden nun zumindest klare Vorzeichen gesetzt. Es kann keine Währungspolitik geben ohne wirtschaftspolitische Begleitung. Das hatte schon der Werner-Plan in den 70er-Jahren vorgesehen.

• Was halten Sie denn vorn Vorhaben des neuen französischen Präsidenten, eben diesen Fiskalpakt neu verhandeln zu wollen?

Von einer Neuverhandlung des Fiskalpaktes halte ich nichts. Frankreich benötigt gesunde öffentliche Finanzen und Frankreich braucht Wachstum. Wachstum bekommt man aber nicht mit der Verhandlung von Verträgen; Wachstum bekommt man durch die richtige Politik. Rückblickend muss man in dem Fall für Frankreich feststellen, dass Nicolas Sarkozy die erforderlichen Strukturreformen nicht vorgenommen hat.

• Wie sehen Sie die anstehenden Personaldiskussionen in der EU?

Ohne mich in irgendeiner Weise festlegen zu wollen, finde ich es ein bisschen störend, welche Bedeutung der Nationalitätenfrage bei der Postenbesetzung beigemessen wird. Nach meinem Verständnis sollte stets die Person eine Stelle besetzen, die sich von ihren Fähigkeiten und ihrer Erfahrung her als am geeignetesten erweist. Was die Leitung der Euro-Gruppe betrifft, so hat Jean-Claude Juncker nach meinem Dafürhalten diese aufreibende Arbeit während drei Mandatszeiten gut bewältigt. Ich glaube demnach auch, seine jetzige Haltung nachvollziehen zu können.

• Reizt es Sie angesichts der nationalen wie internationalen Herausforderungen nicht mehr, das politische Geschehen mitzugestalten?

Nein. Jede Generation soll ihr Spiel bestreiten. Mir ist denn auch nicht bange, dass die heutige Generation es schafft, die Herausforderungen zu meistern. Ich für meinen Teil werde die politischen Entwicklungen auch weiterhin mit großem Interesse verfolgen und meinen Rat dort einbringen, wo es verlangt wird.

 

Biografle:  Jacques Santer wurde am 18. Mai 1937 in Wasserbillig geboren. Studium der Rechtswissenschaften in Paris. 1972 wird er Staatssekretär im Staatsministerium und im Arbeits- und Sozialministerium. Zwischen 1979 und 1984 übernimmt er das Finanzressort und wird Minister für Beschäftigung und soziale Sicherheit sowie Familienminister. Am 20. Juli 1984 wird Jacques Santer zum ersten Mal als Staatsminister vereidigt, das Finanzministerium behält er auch als Regierungschef bei. 1989 wird er zum zweiten Mal Premierminister, das Finanzressort übergibt er an seinen späteren Nachfolger Jean-Claude Juncker. Das Schatzamt fällt allerdings weiterhin in seine Zuständigkeit. Zudem übernimmt Santer das Kulturministerium. Am 23. Janüar 1995 erfolgt der Wechsel nach Brüssel: Jacques Santer wird Präsident der Europäischen Kommission. Am 19. Juli 1999 tritt die Kommission nach den Korruptionsvorwürfen gegen Kömrnissarin Edith Cressän geschlossen zurück. Zwischen 1999 und 2004 vertritt Santer Luxemburg im EU-Parlament.

Quelle: Luxemburger Wort, 18.05.2012
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