Drei Fragen an Jean-Claude Juncker
1. „Nicht nur an heute denken, vor allem an morgen denken“, sagten Sie beim Neujahrsempfang der CSV. Das heißt, dass wir umdenken und Entscheidungen treffen müssen, die ein Morgen zulassen. Was müssen wir tun?
Jean-Claude Juncker: Es kommt vor allem darauf an, dass wir einen allgemeinen Konsens in unserer kleinen Luxemburger Gesellschaft herbeiführen. Es muss klar sein, dass Politik sich nicht nur kurzfristigen Aufgaben zu stellen hat, das muss sie selbstverständlich auch, aber wenn man zukunftsorientierte Politik machen will, dann muss man sich ein intergenerationelles Grundverständnis über die Zusammenhänge zwischen heute und morgen aneignen.
Das setzt voraus, dass man nicht müde werden darf, die Zukunft, so wie man sie sieht und wie sie sich entfalten kann, immer wieder zu beschreiben, wissend, dass viele Menschen nicht gerne an diesem Spaziergang in Richtung unbekannter zukünftiger Landschaften teilnehmen. Aber alle Entscheidungen größeren Zuschnittes müssen sich einschreiben in Überlegungen, in deren Mittelpunkt die Nachhaltigkeit stehen soll. Nachhaltiges Denken muss breitere Ansätze haben als sich nur mit dem Hier und Heute zu beschäftigen.
2. Wie soll man denn jenen, die nicht von der Notwendigkeit des Umdenkens überzeugt zu sein scheinen, den Handlungsbedarf veranschaulichen?
Jean-Claude Juncker: Weil die Bereitschaft, die Zukunft anzugehen, nicht ausgeprägt ist, muss man versuchen aufzuzeigen, dass in der Vergangenheit manchmal Entscheidungen getroffen wurden, die dem Nachhaltigkeitsprinzip nicht ausreichend Rechnung trugen und uns heute vor Probleme stellen. Zum Beispiel, dass wir es, trotz allen Bemühungen nicht fertigbrachten, ein qualitativ nachhaltiges Wirtschaftswachstum zu gewährleisten. Vielleicht muss man von den Fehlern der Vergangenheit ausgehen, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass das was man heute entscheidet nicht zu fehlerhaften Entwicklungen in der Zukunft führen darf.
3. Am kommenden Montag tagt der Rat der Europäischen Union in Brüssel. Was antworten Sie jenen Menschen, denen europäische Politik zusehends komplizierter erscheint?
Jean-Claude Juncker: Ich habe Verständnis für das Unverständnis der Menschen der europäischen Politik gegenüber: Ich plädiere auch dafür, dass man zur Kenntnis nehmen muss, dass die Welt komplizierter geworden ist und dass wir es hier mit einer Finanz- und Wirtschaftskrise zu tun haben, für deren Bewältigung kein Muster in den Lehrbüchern zu finden ist. Europa und die Eurozone stehen hier im Epizentrum einer globalen Herausforderung, wie es sie in dieser Heftigkeit noch nie gegeben hat. Es ist eine Krise, die zeitgleich und mit nie dagewesener Intensität angekommen ist. Damit müssen wir klarkommen ohne dabei aber das europäische Sozialmodell aufzugeben.
Und man muss sich heftig gegen jene Stimmen wehren, die die Krise als eine normale Konsequenz von der mangelhaften Wehrhaftigkeit der sozialen Marktwirtschaft der Globalisierung gegenüber bezeichnen.
Die Krise ist darauf zurückzuführen, dass wir die Kardinaltugenden der sozialen Marktwirtschaft nicht ausreichend berücksichtigt haben und nicht darauf, dass diese Kardinaltugenden falsch sind.
Quelle: CSV Profil, 28. Januar 2012