Mit Europa für Luxemburg

Lucien Thiel, neuer Präsident, leitet zusammen mit dem 1. Vizepräsidenten Marc Spautz die Geschicke der CSV-Fraktion.

Wie die Wirtschaft kein Selbstzweck, sondern ein Instrument im Dienste des Menschen zu sein hat, ist die europäische Integration kein Ziel an sich, sondern ein Mittel zur Selbstverwirklichung der Menschen, die dort leben. Das mag jetzt etwas hochtrabend klingen, aber irgendwie sind wir doch an einem Punkt angelangt, an dem wir uns entscheiden müssen, wie dieses Europa letztendlich aussehen soll und wie wir uns als Nation in diesem Mehrstaatengefüge zu positionieren gedenken.

Dass derartige Überlegungen gerade jetzt an der Tagesordnung sind, wo doch Europa seit bald 60 Jahren für uns Luxemburger alltägliche Realität ist, hängt damit zusammen, dass diese europäische Allgegenwart in eine entscheidende Phase getreten ist und sich anschickt, die herkömmliche nationale Eigenständigkeit zu verdrängen.

Sich neuen Gegebenheiten fügen

Nach den Regierenden, die inzwischen mehr Zeit in der EU-Schaltzentrale in Brüssel verbringen als an ihren Schreibtischen daheim und die sich längst an die Entscheidungsverlagerung hin zu Europa gewöhnt haben, sind jetzt die Volksvertreter an der Reihe, um sich den neuen Gegebenheiten zu fügen. Zwar haben die nationalen Parlamentarier schon seit längerem gemerkt, dass die Musik woanders spielt, sind sie doch heute vor allem damit beschäftigt, jene Richtlinien abzusegnen, die nicht von ihnen, sondern in Brüssel gestrickt wurden.

Abgesehen von einigen wenigen Bereichen, in denen noch ein einziges der 27 Mitgliedsländer sein Veto einlegen und eine Gemeinschaftsentscheidung abblocken kann, werden die politischen Entscheidungen von der EU-Kommission vorbereitet und vom Ministerrat und dem Europaparlament verabschiedet. Die nationalen Volksvertretungen dürfen dazu nur noch nicken.

Lamentieren ist nicht gefragt

Über diese Kaltstellung der nationalen Parlamente zu lamentieren wäre allerdings genau so sinnlos, wie das europäische Gemeinschaftswerk insgesamt jedesmal dann in Frage zu stellen, wenn einem eine in Brüssel getroffene Entscheidung nicht gefällt. Weitaus sinnvoller ist es, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die der Lissabonner Reformvertrag den nationalen Parlamenten einräumt indem er sie darüber mitbestimmen lässt, ob denn jetzt eine bestimmte Entscheidung gemeinschaftlich gefasst oder der nationalen Befugnis – nach dem sogenannten Subsidiaritätsprinzip – überlassen werden soll. Hier wurde den nationalen Parlamenten ganz klar eine Tür geöffnet, indem ihnen ein gewichtiges Mitspracherecht eingeräumt wurde, was den nationalen Volksvertretern durchaus ein neues Selbstwertgefühl vermitteln sollte.

Allerdings setzt diese neue Perspektive eine radikale Umstellung des herkömmlichen Arbeitsablaufs voraus. Statt am Ende der legislativen Kette nur noch quasi pro forma politische Entscheidungen abzunicken, müssen sich fortan die nationalen Parlamente sofort am Anfang der Kette einklinken, um auf die Orientierung der Richtlinien-Entwürfe einwirken und so die Entscheidungen mitgestalten zu können.

Dieser Umstellungsprozess prägt mittlerweile die Arbeiten am Krautmarkt und stellt in der Praxis zweifellos eine Herausforderung für die Volksvertreter dar. Aber diese Umstellung ist die Mühe und die vorübergehende Anstrengung wert, denn ohne sie würde das nationale Parlament vollends in der Bedeutungslosigkeit versinken. Und mit ihm auch die nationalen Interessen. Nur mit Europa als Waffe lässt sich noch wirksam für die Zukunft Luxemburgs kämpfen.

Lucien Thiel
Präsident der CSV-Fraktion

Quelle: CSV-Profil, 5. Mäerz 2011