Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft

“Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, nicht umgekehrt.” Herausgeber zu Fragen der Zeit, Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischen Merkur

 Die überzeugten Anhänger der Sozialen Marktwirtschaft haben es heute wieder einfacher. Nach dem Finanzdebakel im Herbst 2008 und den sich daraus ergebenden Verwerfungen in der Realwirtschaft hört man ihnen wieder zu. Die Soziale Marktwirtschaft erlebt eine regelrechte Renaissance. Das ist gut so. 

Schlecht war, dass sie in den letzten 15 Jahren außer Mode gekommen war. Wer sich zu ihr bekannte, ihre Kardinaltugenden den Marktradikalen ins Gedächtnis zu rufen versuchte, der wurde in unzähligen Debatten der Rückwärtsgewandtheit bezichtigt. Die Marktwirtschaft komme ohne soziale Finalität aus, so wurden sie belehrt, der Markt und er allein sorge für das Wohlergehen aller. 

Sogar in christlich-demokratischen Zirkeln bekamen die Anwälte des Sozialen der Marktwirtschaft kaum noch einen Fuß auf den Boden und ernteten mehr Widerspruch als Zuspruch. Sie wurden – weil sie die neue Marktmode nicht eifrig genug beklatschten – als Herz-Jesu-Marxisten gebrandmarkt, als Ewiggestrige abgekanzelt und der populistischen Arbeiterromantik beschuldigt. Doch mit dem Platzen der Finanz- und Immobilienblase ist auch die Marktillusionsblase geplatzt. Es hat sich erwiesen, dass der Markt nicht alles kann und die losgelassenen Kräfte des freien Marktes in die ökonomische Irre und in die soziale Leere führen. 

Der deutsche Nationalökonom Alfred Müller-Armack, eigentlicher "Erfinder" der Sozialen Marktwirtschaft, hatte diese als dritten Weg zwischen liberaler Marktfreiheit und zentralisierter Planwirtschaft beschrieben, als Ordnungssystem, das den wilden Kapitalismus zähmen solle. Der französische Ökonom Michel Albert seinerseits hat – in Anlehnung an die katholische Soziallehre – in zahllosen Beiträgen deutlich gemacht, dass die Kombination aus Marktwirtschaft, Wettbewerb und Selbstverantwortung nur dann den berechtigten Anliegen der Allgemeinheit genügen kann, wenn sie soziale Ziele bedient. 

Die Politik ist in der Pflicht 

Wahr ist: Der Markt produziert keine spontane Solidarität. Solidarität entsteht nur aus dem Zusammenspiel von Markteffizienz und ordnendem Einfluss des demokratisch legitimierten Staates. Die Soziale Marktwirtschaft ist eben kein ergebnisoffenes System, in dem jeder mit der Kraft seiner Ellenbogen für sich selbst sorgt. Die Wirtschaft hat den Menschen zu dienen, nicht umgekehrt. Damit sie den Menschen dienen kann, damit die Marktwirtschaft sozial werden kann, muss die Politik sich selbst in die soziale Pflicht nehmen. 

Die Politik muss für hohes Wachstum sorgen und deshalb im aktuellen europäischen Kontext das Wachstumspotenzial steigern. Das durch die Finanz- und Wirtschaftskrise stark lädierte Wachstumspotenzial reicht nicht aus, um die negativen Folgen des demografischen Wandels und der Überalterung unserer Gesellschaften aufzufangen. Soziale Marktwirtschaft ist intergenerationell angelegt. Wir dürfen die Lebenschancen zukünftiger Generationen nicht abwürgen. Deshalb brauchen wir ein ressourcenschonendes, nach oben korrigiertes Wachstum. Für uns. Und für die, die nach uns kommen. 

Soziale Marktwirtschaft und hohe Inflation vertragen sich nicht miteinander. Deshalb hat die europäische Wirtschafts- und Geldpolitik für stabile Preise und niedrige Inflation zu sorgen. Der Ausstieg aus Schulden und Defiziten darf nicht den bequemen Weg gewollter Inflationsaufblähung gehen. Die Inflation ist der "Feind des kleinen Mannes". Eine überhöhte Inflation wäre deshalb mit dem Sozialen der Marktwirtschaft nicht kompatibel. Genauso wäre eine Politik der ungezügelten Verschuldung auf Kosten nachfolgender Generationen mit den Grundzügen der Sozialen Marktwirtschaft nicht vereinbar, eben wegen ihrer intergenerationellen Dimension. 

Schachbrett blinder Ökonomie 

Die Soziale Marktwirtschaft braucht zu ihrem Gelingen einen funktionierenden Arbeitsmarkt und eine harmonisch verfasste Arbeitswelt. Die Politik hat die Aufgabe, niemanden am Rande des Arbeitslebens stehenzulassen. Sie muss eine aktive Arbeitsmarktpolitik betreiben, die inklusiv und nicht exklusiv ist. Sie hat auch dafür zu sorgen, dass die Arbeitsbedingungen nicht qualitativ so weit abrutschen, dass die Arbeitnehmer zu Figuren auf dem Schachbrett blinder Ökonomie werden. Frenetische und ungebremste Deregulierung passt nicht zur Sozialen Marktwirtschaft. Diese Grundprinzipien und Konsequenzen der Sozialen Marktwirtschaft haben Einzug in den Lissabonner EU-Reformvertrag gefunden. Artikel 3 Absatz 2 des Vertrages erklärt die Soziale Marktwirtschaft zum europäischen Modell. Verträge verpflichten. Ergo darf der sozialmarktwirtschaftliche Auftrag des Reformvertrags nicht zur Leerformel verkümmern. 

Quelle: Rheinischer Merkur, 8. April 2010, Jean-Claude Juncker