Paradigmenwechsel im zweiten Anlauf

Die Sozialhilfe wird nach mehr als 150 Jahren endlich reformiert

Luxemburger Wort, Dani Schumacher

Nach einem ersten Votum im Mai stimmt das Parlament heute erneut über die Reform der Sozialhilfe ab. Künftig hat jeder Bürger, der darauf angewiesen ist, ein Recht auf Sozialhilfe. Nach mehr als 150 Jahren kommt es nun endlich zu einem Paradigmenwechsel. 

Familienministerin Marie-Josee Jacobs hatte den Gesetzentwurf am 22. Januar 2008 eingebracht. Bei der Vorstellung zeigte sie sich zuversichtlich, dass das Reformvorhaben noch im gleichen Jahr die parlamentarische Hürde nehmen könnte. Nun wird sich die Ministerin noch gedulden müssen, denn das Gesetz, das die neue Basis für die Sozialhilfe liefert und das alte Gesetz aus dem Jahr 1846 außer Kraft setzt, wird erst am 1. Januar 2011 in Kraft treten. 

Zu dieser zeitlichen Verschiebung hatten sich der Familien- und der Innenausschuss in Abstimmung mit der Regierung nach dem ersten Votum im Parlament im Mai dieses Jahres entschlossen, als sich abzeichnete, dass es kaum möglich sein wird, die Vorbereitungsarbeiten bis zum ursprünglich geplanten Datum vom 1. Januar 2010 abzuschließen. Eine zweite Änderung, die ebenfalls nach der Abstimmung erfolgte, betrifft das zusätzliche Personal, das das Familienministerium für die Umsetzung des Sozialhilfegesetzes einstellen kann. Auch hier wurde der zeitlichen Verschiebung Rechnung getragen. 

Die Berichtererstatterin Sylvie Andrich-Duval (CSV) ist denn auch nicht wirklich begeistert über die Verzögerungen: "Angesichts der Krise wäre es natürlich wünschenswert gewesen, wenn die Reform bereits im Januar nächsten Jahres in Kraft getreten wäre. Denn wegen der steigenden Arbeitslosigkeit sind immer mehr Bürger auf die Sozialhilfe angewiesen." 

Dass überhaupt eine zweite Lesung des Reformvorhabens notwendig wurde, liegt in der Kritik des Staatsrats begründet, der die kommunale Autonomie in Gefahr sieht. Es ist die im Gesetz vorgesehene Mindestgröße von 6 000 Einwohnern, die die Hohe Körperschaft zu einer "Opposition formelle" nötigte. Kommunen, die mehr als 6 000 Einwohner zählen, können ein eigenes Sozialamt betreiben. Gemeinden, die diese Mindesthürde nicht erreichen, müssen sich mit anderen Kommunen zusammentun, bis die 6 000-Einwohner-Grenze erreicht ist. Und es ist diese Obligation, die der Staatsrat nicht dulden mag. 

Sylvie Andrich-Duval macht auf ein anderes Problem aufmerksam. Auch wenn sich am Datum des 1. Januar 2001 nichts mehr ändern wird, so könnte es dennoch zu weiteren Verzögerungen kommen. Da die beiden letzten Änderungsanträge sich auf einen Gesetzestext beziehen, über den das Parlament bereits ein erstes Mal abgestimmt hat, gilt die Abstimmung heute nicht als zweites, sondern als erstes Votum. Hält nun der Staatsrat an seinem formellen Einspruch hinsichtlich der Gemeindeautonomie fest, müssen die Abgeordneten nach drei Monaten ein weiteres Mal über die Reform der Sozialhilfe befinden. 

Die Berichterstatterin hält die 6 000-Einwohner-Grenze für richtig. Es handle sich dabei um einen guten Kompromiss, so Andrich-Duval. Der ursprüngliche Gesetzentwurf ging nämlich noch von 10 000 Einwohnern aus. In den Gesprächen mit dem Innenausschuss, dem u.a. verschiedene Gemeindeverantwortliche angehören, sei dann aber deutlich geworden, dass die Regierung mit 10 000 Einwohnern zu hoch gegriffen hatte. Das hätte beispielsweise dazu geführt, dass auch größere Kommunen wie etwa Schifflingen mit knapp 7 000 Einwohnern kein eigenes Sozialamt betreiben dürften. 

Dass die per Gesetz verordnete Zusammenarbeit die Autonomie der Gemeinden gefährden könnte, befürchtet die Berichtererstatterin nicht. Vielmehr glaubt sie, dass durch die Mindestgrenze die Hilfe effizienter und einheitlicher gestaltet werden kann: "Die Größe der Gemeinde darf nicht über die Art der Hilfe entscheiden. Wer in Not gerät, dem muss überall die gleiche Hilfe zuteil werden, unabhängig von der Größe der Gemeinde, in der er lebt." Die CSV-Politikerin unterstreicht schließlich, dass es durch die Reform zu einem viel globaleren Ansatz bei der Sozialhilfe kommt. "Wenn einer seine Miete nicht zahlen kann, wird nicht länger nur das Geld überwiesen. Der oder die Sozialarbeiter werden sich vielmehr mit der Frage auseinandersetzen, wieso die Person ihre Miete nicht aufbringen kann." Es geht also darum, die betroffenen Personen zu begleiten und sie aus ihrer Notlage herauszuführen. In der Optik ist auch die soziale Untersuchung zu verstehen, die in jedem einzelnen Fall durchgeführt wird. Es wird also eine Art Diagnose erstellt, die es ermöglicht, die Gesamtsituation zu erfassen. Darauf aufbauend wird dann eine Lösung erarbeitet. 

Die Eckdaten: Das Gesetz reformiert die juristische Grundlage der Sozialhilfe, die noch aus dem Jahr 1846 stammt. Es dient als Basis für die Sozialämter der Kommunen. Neu ist, dass künftig jeder Bürger ein Recht auf Sozialhilfe hat und beim Conseil arbitral der Sozialversicherungen Einspruch gegen die Entscheidungen des Sozialamtes einlegen kann. Kommunen mit mehr als 6 000 Einwohner unterhalten ein eigenes Sozialamt. Kleinere Gemeinden, die keine 6 000 Einwohner zählen, müssen sich mit anderen Kommunen zusammentun und ein gemeinsames Sozialamt betreiben. Der Gesetzgeber will durch die Untergrenze erreichen, dass jeder Bedürftige die gleiche Hilfe erhält, unabhängig davon, ob er in einer kleinen oder in einer großen Gemeinde wohnt. Jedes Sozialamt muss in Abhängigkeit zur Bevölkerung, die es zu betreuen hat, mindestens einen Sozialarbeiter und eine Halbtagskraft für die Verwaltung beschäftigen. Dadurch soll die Hilfe professioneller werden.
 
Quelle: Luxemburger Wort, Dani Schumacher, 19. November 2009