Juncker on Tour

Die meisten Bürger kennen Premier Jean-Claude Juncker aus den Nachrichten. Jetzt im Wahlkampf zieht der Spitzenkandidat der CSV durch die Wahlbezirke. Ein Politstar zum Anfassen: Telecran hat Juncker auf seiner Tournee begleitet.

VON MARTINE HEMMER

Von martialischer Rhetorik in der Politik hält er nicht viel. In seiner Rolle als europäischer Vordenker hat Jean-Claude Juncker immer wieder betont, dass es bei Verhandlungen zwischen Staaten weder Sieger noch Besiegte gebe. Vielleicht ist Jean-Claude Juncker deshalb der Begriff "Wahlkampf" nicht ganz geheuer. Umso mehr, da der "Wettbewerb zwischen den Parteien sich in außergewöhnlichen Zeiten abspielt", wie er sagt. Wie ein Menetekel thront das Wort "Krise" unsichtbar über dem Rednerpodest, das der Spitzenkandidat der CSV zum Auftakt von "Juncker on Tour" in Differdingen besteigt. Bescheidenheit ist angesagt. Und so macht Juncker seinem Wahlkampfmanager selbst bei dem verhaltenen Versuch, den Auftritt mit einem Hauch von Inszenierung zu versehen, einen Strich durch die Rechnung. Fast unbemerkt ist der Dienstwagen des Staatsministers vor die Halle gefahren. Schnurstracks steuert Juncker den freien Platz neben Fraktionspräsident Michel Wolter an, um den Menschen am Tisch ausgiebig die Hand zu schütteln, statt sogleich unter tosendem Beifall vor das Publikum zu treten.

Es war ein vergleichsweise ruhiger Tag im Leben des Jean-Claude Juncker, der trotz aller Disziplin und Konzentrationsstärke zugeben musste, dass die für ihn schwierigste Zeit in seiner politischen Karriere hinter ihm liegt. Zwischen dem morgendlichen Regierungsrat, Telefonaten mit ausländischen Ministerkollegen und dem traditionellen Fischessen auf dem "Märtchen" zusammen mit Journalisten, findet der Rhetoriker Juncker noch Zeit, an seiner Rede zu feilen, die er abends überwiegend frei vorträgt. "Wahlen machen mich nicht nervös", sagt er. Angesichts seiner Umfragewerte glaubt man ihm das unbenommen. Seine Reden gleichen daher auch eher einem gut strukturierten Expose des CSV-Wahlprogramms – kein lautes Einhämmern der Argumente, ab und zu eine Spitze gegen die Konkurrenzparteien. Lediglich die in einer Kochshow des ZDF offenbar gewordenen Deutschschwächen seines LSAP-Kontrahenten Asselborn verleiten ihn zu genüsslichen Sticheleien. Man könnte es auch Herumhacken nennen, die Lacher hat er damit auf seiner Seite.

Der allgemeinen Ratlosigkeit wagt er zwar eine behutsame Wirtschaftsprognose – nach weiteren Konjunktureinbrüchen in der Euro-Zone, sieht er Ende 2009 für Luxemburg "Licht am Ende des Tunnels", für 2011 den Aufschwung -gesteht dann aber freimütig: "Ich bin von Zweifeln zerfressen."

Ehrlichkeit, die ankommt. Selbst dann, wenn er betont, dass es mit ihm als Regierungschef in nächster Zeit keine Steuergeschenke gibt. Die CSV setzt in ihrer Kampagne auf Personalisierung, präsentiert sich als "déi mam Juncker". Die Christlich Soziale Volkspartei gibt sich als jene im politischen Spektrum, die Tacheles redet. Juncker sagt was Sache ist. Jetzt. Vor der Wahl. Das heißt: Es wird anstrengend, alle müssen mit anpacken. Damit sind auch die älteren Zuhörer gemeint, die an diesem Abend in der Überzahl sind. Daran lässt Junckers Gestik keine Zweifel – wiederholt zeigt er mit dem Finger in die Reihen. Er fordert Solidarität zwischen den Generationen, damit die Jungen nicht unter der Schuldenlast zusammenbrechen. Just in dem Moment, als eine Jungenclique auf Fahrrädern sich neugierig die Nasen an der verglasten Seitenfassade platt drückt, setzt Juncker an, um über die Zukunftschancen der Luxemburger Wirtschaft zu reden. Während die eine Hand auf dem Pult ruht, vollführt die andere spiralförmige Bewegungen nach oben. Förderung einer philantropischen Finanzwirtschaft, Investition in moderne Biotechnologie -plötzlich spricht der Wirtschaftsexperte, doch noch bevor es zu akademisch-langatmig wird, bringt er die kleine Emilie ins Spiel, die an einer seltenen Pilzkrankheit leidet, deren Erforschung sich aber für die großen Pharmakonzerne nicht lohne.

Es sind diese Momente, in denen sich der Berufspolitiker Juncker als "Mann des Volkes" geriert und dabei unweigerlich auf seine Herkunft als Sohn eines Stahlarbeiters verweist. Doch viele sehen in ihm längst den fürsorglichen Landesvater, der – Zweifel hin oder her – Luxemburg schon wieder in den sicheren Hafen führt. "Bisher hat er seine Sache immer gut gemacht. Er wird schon wissen, was das Richtige ist", meint eine Rentnerin aus Küntzig. Ohne dieses Charisma wäre "Juncker on Tour" ein gewöhnlicher Wahlkampfauftritt, der mit artigem Applaus endet. Doch die eigentliche Show beginnt für viele nach dem Schlusssatz, im Foyer, wenn es den Staatsminister zum Anfassen gibt. Der Mensch Juncker zeigt dann einen Charme und eine Warmherzigkeit, die er in Fernsehshows und Interviews nur gelegentlich erahnen lässt: Es wird geherzt, gegrüßt, geprostet. Geduldig posiert Juncker für Erinnerungsfotos, schreibt Autogramme. Eigentlich liege dieses ständige Händeschütteln und Schulterklopfen ihm nicht besonders, sagt er "Doch ich mag die Menschen, deshalb fällt es mir leicht, auf sie zuzugehen." So erfahre er am besten, was sie bewegt: "Die Menschen haben Angst um ihre Arbeitsplätze, Angst um ihr Einkommen. Sie wissen nicht, wie es nach der Krise weitergeht." Auffallend ist, wie Juncker das Wort "Wähler" meidet. Dass es bei "Juncker on Tour" auch um Stimmenfang geht, könnte man dabei fast vergessen.

Eine Woche später bahnt sich der 55-jährige Juncker seinen Weg durch das Gewirr an Terrassenstühlen vor den Szenelokalen in der Hollericher Straße. Das "Marx" ist gerammelt voll, obwohl der laue Abend eher Lust auf ein Getränk im Freien macht. Die Bar am Ende des berühmten Hinterhofs ist seit jeher bekannt als Treffpunkt der " Jeunesse Dorée". Wer hier verkehrt, ist entweder schön, durchgestylt, oder beides. Zumindest beruflich steht die Feierabendklientel auf der Sonnenseite des Lebens und hat mit dem Namensgeber des Lokals und dessen Lehre nur wenig am Hut. Hier also soll der CSV-Spitzenkandidat auf den Jungwähler treffen? Soll sich hierhin tatsächlich der Schulabbrecher verirren, der ohne Qualifikation kaum eine Chance auf dem Arbeitsmarkt hat? Der junge Zeitarbeiter, der nicht weiß, ob er morgen noch einen Job hat? Juncker meets Marx? Wohl eher nicht. Zunächst trifft Juncker ohnehin auf Fotografen und Journalisten, die den prominenten Kneipenbesucher in Beschlag nehmen. Zum Leidwesen der CSJ-Mitglieder, die sich als Gastgeber erst sehr über das schweißtreibende Tohuwabohu freuen, dann aber etwas enttäuscht feststellen, dass Juncker eingekeilt zwischen Theke und Pressetross, nicht wirklich mit der Jugend auf Tuchfühlung geht.

Sarah und Xavier gelingt es dennoch, sich zwischen Kameras und Staatsminister zu quetschen. Zuvor hatte dieser verkündet, Politik für jene machen zu wollen, die an sich selbst glauben. In diesem Moment gehört bereits eine gehörige Portion Selbstvertrauen dazu, sich mit seiner Frage bis zum Premier durchzuschlagen. Der 20jährige Xavier, der nach einem freiwilligen sozialen Jahr Psychologie studieren möchte, fragt nach der Lebensphilosophie Jean-Claude Junckers. Was treibt ihn an, wo schöpft er seine Energie? Wer einmal an den Menschen Juncker rankommt, möchte kaum Zeit mit schnöder Parteiprogrammatik vergeuden. Schließlich lässt sich diese auch in aller Ruhe und ausführlich nachlesen. Kaum ein Tag, an dem der Briefkasten nicht vor Wahlprospekten überquillt. Schülerin Sarah analysiert gerade in der Klasse die Programme der Parteien. "Ziemlich interessant" sei der Wahl-Unterricht, und wichtig, denn schließlich gehe es um die Zukunft des Landes. Die Krise habe die Jugendlichen aufgerüttelt, meint Sarah. Sie wohnt in Niederkorn, im südlichen Wahlbezirk. Ob sie denn am 7. Juni für Juncker stimme? Das wisse sie noch nicht. "Ich muss vorher noch mehr lesen, mich besser informieren." Und was ist denn nun Junckers Erfolgsrezept? "Die innere Ruhe und die Kraft, die ihm andere Menschen geben", berichtet Xavier.

Beobachter haben Juncker in letzter Zeit angeschlagen erlebt. Beim Fernsehduell mit dem DP-Spitzenkandidaten Claude Meisch wirkte er atemlos, sobald die Debatte hitziger wurde. Ein vorübergehendes Tief nach einem anstrengenden Krisenjahr? Einem Regierungschef, der sich anschickte, zu Hause Banken zu retten, in Europa die Wirtschaft vor der Katastrophe zu bewahren und die EU-Institutionen nach dem irischen Nein zum Lissabon-Vertrag aus der Erstarrung zu befreien, dem würde man eine vorübergehende Schwäche nicht unbedingt anlasten. Juncker überlegt erst, entgegnet dann forsch: "Jemand, der in drei Schichten arbeitet, ist abends müder als ich." Doch kennt er nicht auch Momente der Resignation? Wieder eine Gedankenpause. "Wie jeder Mensch erlebe ich Höhen und Tiefen." Jetzt klingt er versöhnlicher. "Im Moment verspüre ich aber gehobenen Kampfesmut." Also doch.

Quelle: Telecran, 27. Mai 2009