Kooperationsminister Jean-Louis Schiltz wird dem Parlament heute in seiner politischen Erklärung die Bilanz und die Erkenntnisse erläutern, die sich für ihn zum Ende dieser Legislaturperiode aus seinem mit viel Engagement geführten fünfjährigen Mandat ergeben haben. Was dem Menschen und Politiker Jean-Louis Schiltz aus dieser Zeit und seiner Konfrontation mit den Herausforderungen, Abgründen und Perspektiven des Nord-Süd-Verhältnisses haften geblieben ist, hat er ebenfalls in einem Buch zusammengefasst. Grundsätzliche Ansichten vermittelt er im LW-Interview mit Marcel Kieffer
Luxemburger Wort: Herr Minister, Ihr soeben erschienenes Buch "I+l=3 – Repenser les relations entre le Nord et le Sud" ist ein Plädoyer für eine gerechtere Welt. Halten Sie diese auch noch im Kontext der weltweiten Wirtschaftskrise für denkbar?
Jean-Louis Schiltz: Das Buch ist das Resultat von fünf Jahren Kontakten, Erfahrungen, Hoffnung, wenig Enttäuschungen, und der Titel besagt, dass in den Jahren 2020-2030 jeder Optimismus im Bereich des Nord-Süd-Verhältnisses zulässig ist, sofern die Entwicklungshaushalte hoch bleiben und die Menschen in den Ländern der Dritten Welt es fertig bringen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, wenn die gesellschaftlichen und politischen Indikatoren sich dort verbessern und mehr Klimagerechtigkeit geschaffen wird. Natürlich wirft die Krise uns zurück, aber die bisherigen Resultate sind beachtlich: Im Jahr 2008 sank die Zahl der sterbenden Kinder weltweit erstmalig unter zehn Millionen, bei steigender Demografie, 83 Prozent der Kinder gehen heute zur Schule, 34 Millionen mehr als noch 2001. Es ist also zu schaffen.
Luxemburger Wort: Nun sind die z. B. von den EU-Ländern gewährten Entwicklungsgelder in den letzten beiden Jahren zurückgegangen. Das deutet aber doch auf eine eher negative Entwicklung hin, oder?
Jean-Louis Schiltz: Es ist den armen Menschen in der Dritten Welt nicht zu vermitteln, dass wir Geld haben, um Banken zu retten, nicht mehr aber für sie, um ihre elementaren Lebensbedingungen zu verbessern. Der Appell an die internationale Solidarität muss noch lauter und vernehmlicher sein, ein Appell, der von allen 27 EU-Ministern und von 27 europäischen Parlamenten getragen werden muss. Es ist für mich moralisch nicht vertretbar und politisch unverantwortlich, in diesen Zeiten Entwicklungsbudgets zu kürzen und uns von jenen abzuwenden, denen es schon seit Jahrzehnten sehr schlecht geht. Die Ärmsten der Armen dürfen nicht Verlierer der Krise sein. Der Preis, den wir in Zukunft zu zahlen hätten, wäre um ein Vielfaches höher, in der Folge jener diabolischen Spirale, die in der Konsequenz sich summierender sozialer, politischer und humanitärer Krisen, zu einem noch weitaus stärkeren Immigrationsdruck führen würde.
Luxemburger Wort: Haben die armen und strukturschwachen Länder überhaupt eine Chance in dieser globalisierten Welt, wo jetzt selbst die reichen Industrienationen arg in Schwierigkeiten geraten?
Jean-Louis Schiltz: Wir kennen die Chancen und die Risiken der globalisierten Welt, in der wir leben. Und wir wissen auch, dass es Konsequenzen in Europa und anderen Regionen der westlichen Welt geben wird, wenn wir nichts gegen Not und Unterentwicklung in der Dritten Welt unternehmen. Dies ist die Realität, die wir akzeptieren und der wir uns stellen müssen. Wir müssen die Globalisierung folglich entwicklungspolitisch steuern, ebenso in den klassischen Bereichen, Gesundheit, Erziehung, Entwicklung im ländlichen Raum usw., wie auch auf dem Sektor der wirtschaftlichen Autonomie. Die Menschen in den unterentwickelten Ländern müssen lernen und die Chance bekommen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Ziel kann es nicht sein, sie dauerhaft von unserer Hilfe abhängig zu machen. Deshalb auch die massiven Investitionen, z.B. von Luxemburg, in Westafrika in den Bereichen, Alphabetisierung, Berufsausbildung, Betriebsführung, Mikrofinanzen usw., wobei vor allem dem regionalen Aspekt Rechnung zu tragen ist.
Luxemburger Wort: Wurden in diesem Zusammenhang die richtigen Schlussfolgerungen aus der Nahrungsmittelkrise der letzten Jahre gezogen?
Jean-Louis Schiltz: Die Nahrungsmittelkrise ist noch nicht überstanden. Langfristig muss vor allem noch stärker in die nachhaltige, auf familiäre Strukturen orientierte Landwirtschaft investiert werden. Hier hat es seit kurzem ein nützliches Umdenken auch bei der Weltbank gegeben, dahingehend, dass der Produktion für den Eigenbedarf eine stärkere Priorität eingeräumt wird.
Luxemburger Wort: Es bleibt der Faktor der subventionierten Nahrungsmittelexporte in die Dritte Welt …
Jean-Louis Schiltz: Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass jeder Kontinent seine Landwirtschaft so organisieren können muss, wie es nötig ist. Subventionierte Exporte zerstören die lokale Produktion in Afrika. Es wurden Anstrengungen unternommen, dies zu unterbinden, es bleibt aber noch so manches zu tun. Im Rahmen der europäischen Agrarpolitik wurden Initiativen ergriffen, es gilt aber, noch weitere Fortschritte zu machen, zum Beispiel im Sinne einer Abkoppelung von der Doha-Runde des in Hongkong angedachten Beschlusses zum Stopp der Exportsubventionierung bis spätestens 2015.
Luxemburger Wort: Stichwort "Bonne gouvernance". Zeigt das Beispiel Sudan uns nicht die Grenzen der Einflussmöglichkeiten westlicher Demokratien und damit deren Machtlosigkeit gegen-über diktatorischen und korrupten afrikanischen Regimen auf?
Jean-Louis Schiltz: Ich plädiere ja nicht für eine 1:1-Übertragung westlicher Demokratiemodelle in der Dritten Welt. Wir müssen bescheiden bleiben, auch wenn es Konstanten gibt, die überall zu respektieren sind. Die afrikanischen Gesellschaften haben ihre Besonderheiten, denen man Rechnung tragen muss. Auch muss man bedenken, dass es sich dort fast ausschließlich um junge Demokratien handelt. Leider fokussiert sich das öffentliche Interesse aber stärker auf das schlechte Beispiel eines Robert Mugabe als auf die durchaus positiven Beispiele der Staatschefs von Liberia, Mali, Benin. Wir müssen wissen, dass wir nach vier, fünf Jahrzehnten in diesen jungen Staaten nicht die perfekte Demokratie erwarten können. Wir stellen aber grundlegende Elemente eines gefestigten demokratischen Gefüges in manchen Ländern fest.
Luxemburger Wort: In Ihrem Buch bringen Sie auch das Anliegen für mehr Klimagerechtigkeit als wichtigen Entwicklungsbeitrag zum Ausdruck. Die Dritte Welt ist also auch abhängig vom westlichen Umweltverständnis …
Jean-Louis Schiltz: Dort, wo der CO 2 -Ausstoß am geringsten ist, sind die Konsequenzen des Klimawandels am stärksten spürbar. Die Afrikaner sind auch hier die ersten Opfer. Fazit: Entwicklungshilfe und Klimapolitik müssen stärker in Einklang gebracht werden. Wir brauchen also eine Einigung beim Klimagipfel in Kopenhagen, von der auch die Entwicklungsländer profitieren. Nur integrierte Ansätze bringen uns weiter.
Luxemburger Wort: Wie beurteilen Sie, nach fünfjähriger Amtszeit als Kooperationsminister, die Fortschritte im Bereich der Millennium-Ziele? War man in dieser Hinsicht zu optimistisch?
Jean-Louis Schiltz: An sich haben die Millennium-Ziele etwas Skandalöses. Nicht um die Hälfte bis 2015, sondern total und absolut müsste eigentlich die Armut in der Welt reduziert werden. Dennoch werden in Asien die Ziele vielerorts erreicht werden, in Afrika viele nicht. Auf globaler Ebene werden sie sicher z.B. auch erfüllt werden, wie z.B. im Bereich der schulischen Ausbildung oder der Senkung der Kindersterblichkeit unter zehn Millionen. Wir müssen in Betracht ziehen, dass die Menschheit wohl noch viel weniger weit wäre, hätte sie sich diese Ziele nicht gesteckt. Der in meinem Buch definierte Horizont für die entwicklungspolitische Formel I+l=3 bezieht sich deshalb auch auf 2030 und nicht 2015.
Luxemburger Wort: Ihr Buch beruht also auf einer hoffnungsvollen Schlussfolgerung eines politischen Mandats, das Ihnen während fünf Jahren die Herausforderungen von Armut und Unterentwicklung n der Welt vor Augen geführt hat.
Jean-Louis Schiltz: Sicher basiert das Buch auf einer Erfahrung als Minister. Darüber hinaus bringt es viele persönliche, menschliche Eindrücke, Überzeugungen, Träume zum Ausdruck. Natürlich leiten sich daraus auch Konsequenzen in der europäischen und luxemburgischen Entwicklungspolitik für die nächsten Jahre ab. Meine tiefe Überzeugung bleibt, dass es möglich sein kann zu bewirken, dass im Nord-Süd-Verhältnis eins und eins durchaus einmal drei ergeben.
Quelle: Luxemburger Wort, 25. März 2009, Marcel Kieffer