Zwischen dem 4. und 7. Juni sind die Bürger in allen 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zur Wahl des Europäischen Parlamentes aufgerufen. Die Wahl, wir Europäer vergessen dies allzu oft, ist ein weltweit einmaliges Demokratieereignis. Kein anderer Kontinent bestimmt in freier, länderübergreifender und direkter Wahl seine Abgeordneten, kein anderer verfügt über ein mit realen Gesetzgebungsbefugnissen ausgestattetes transnationales Parlament. Jean-Claude Juncker im Rheinischen Merkur
Mit der ersten Direktwahl zum Europäischen Parlament wurde im Juni 1979 die Hoffnung auf einen weiteren politischen Integrationsschub in Europa verbunden. Tatsächlich hat sich das Parlament als Integrationsmaschine erwiesen, sodass es durchaus logisch erschien, ihm via Vertragsnovellierungen zusätzliche Entscheidungs- und Mitentscheidungsrechte zuzuerkennen, Es hat seine ausgeweiteten Kompetenzräume klug und geschickt zu nutzen gewusst und nimmt heute eine institutionelle Schlüsselstellung ein. Mithin möchte man meinen, die europäischen Bürger würden sich im Juni in großer Zahl an die Urnen begeben. Es sieht nicht danach aus.
Für die Wahlabstinenz gibt es viele Gründe. Da zu gehört zweifellos die Tatsache, dass das Europäische Parlament für viele Stimmbürger ein unbekanntes Wesen geblieben ist. Sie finden sich im Kompetenzwirrwarr der EU nicht zurecht, wissen etwa nicht, wer und welche Institution für welche Politikbereiche zuständig ist. Zudem kennen die Wähler "ihren" Europaabgeordneten im Regelfall weder namentlich noch persönlich, sodass Volk und Parlament irgendwie fremdeln. Auf Dauer wird dieser Zustand der europäischen Demokratie nicht guttun.
Andere Gründe für das Wählerdesinteresse sind weniger offensichtlich, Der gravierendste besteht in der Vertrauenskrise, die sich zwischen europäischer Politik und europäischem Volkssouverän eingenistet hat. Die Vertrauenskrise wächst, weil die Signale, die die politische Führung Europas aussendet, von den Menschen immer weniger verstanden werden denn sie sind widersprüchlich. Die Menschen wissen nicht mehr, was gilt. Und man kann es ihnen nicht verdenken.
Zwei Beispiele aus jüngster Zeit zeigen, dass viele europäische Regierungen durch ihr Reden und Tun für Verwirrung statt klare Verhältnisse sorgen. Beispiel eins: In mehreren Gipfelerklärungen haben sich die Staats- und Regierungschefs vehement gegen jede Form des innereuropäischen Protektionismus bei der Krisenbekämpfung aus gesprochen. Die Botschaft war klar: Auf dem europäischen Binnenmarkt gilt das Prinzip der Wettbewerbsgleichheit, in Europa sind wettbewerbsverzerrende Solotouren der Nationalstaaten verpönt. Umso erstaunlicher war es, dass mehrere Regierungschefs und Ressortminister ein regelrechtes Trommelfeuer auf die französischen und italienischen Unterstützungsprogramme für ihre jeweiligen heimischen Automobilkonstrukteure vom Stapel liessen. Der EU-Sondergipfel am 1. März wurde im Vorfeld zum Schlagabtausch zwischen Protektionisten und Wettbewerbshütern deklariert. Die heldenhafte Auseinandersetzung fiel jedoch ins Wasser, da kein Regierungschef einen anderen bezichtigte, protektionistische Maßnahmen ergriffen zu haben.
Aus dem Vorgang lernt man zweierlei. Vor der Sitzung wird so getan, als ob es ein ernstes Problem gebe. In der Sitzung selbst findet die Problembehandlung nicht statt, weil niemand etwas zum Problem, das es nicht gibt, zu sagen hat. Die Menschen staunen, weil auf der als Protektionismusgipfel angesagten Tagung nicht über das angesagte Thema gesprochen wird.
Die alte Leier wiederholt sich: Man tut zu Hause so, als müsse man in Brüssel hehre Prinzipien und nationale Interessen schützen und verteidigen, in Brüssel selbst herrscht Einvernehmen. Fazit: Man hat wochenlang medien wirksam über ein Thema diskutiert, das es nicht gab. Man hat Divergenzen erfunden. So als ob EU-Politik ein Spiel wäre. Von den Menschen verlangt man aber, dass sie die Politik ernst nehmen.
Beispiel zwei: Vor dem Brüsseler Treffen beklagten sich die Ost- und Mitteleuropäer über die vermeintliche Weigerung der Westeuropäer, den neuen EU-Mitgliedern in der Krise solidarisch zur Seite zu stehen. Die Sitzung wurde zur Abrechnungsrunde zwischen Ost und West erklärt. In der Sitzung selbst wurde diese Schlachtordnung als überhohes Blockdenken entlarvt. Es gab nicht die Spur einer westlichen Desolidarisierungsaktion.
Auch hier die alte Leier: Auf dem Weg nach Brüssel beschimpft man die anderen und tut so, als müsse man auts hohe Ross steigen; in Brüssel angekommen herrscht eitel Sonnenschein, weil man merkt, dass es für Regenschirme keine Verwendung gibt. Fazit: Die Menschen merken, dass es einen Unterschied zwischen nationaler Dichtung und europäischer Wahrheit gibt.
Wir können die Bürger nur dann für Europa begeistern, wenn wir sie nicht wochen- und monatelang an der Nase herumführen. Kollektive Führung ist gefragt, individuelle Täuschungsmanöver haben zu unterbleiben.
Quelle: Rheinischer Merkur, Jean-Claude Juncker, 12. März 2009