Auf schwierige Tage und Wochen blickt Premierminister Jean-Claude Juncker zum Jahreswechsel zurück. Als ob die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht dramatisch genug wären, schrammte Luxemburg Anfang Dezember knapp an einer institutionellen Krise vorbei, als bekannt wurde, dass Grossherzog Henri aus persönlichen Gründen dem Gesetz über die aktive Sterbehilfe seine Billigung verweigern will. Einmal mehr war damit rasches und rigoroses Krisenmanagement der Regierung nötig. Premierminister Jean-Claude Juncker im Wort Interview mit Joelle Merges und Marc Schlammes
Luxemburger Wort: Herr Premierminister: Finanzkrise, Wirtschaftskrise, Staatskrise. War 2008 ein "Annus horribilis" für Luxemburg?
Jean-Claude Juncker: Ich würde die Lage nicht mit einer solch königlich-dramatischen Wortwahl beschreiben, aber es stimmt schon, dass die zurückliegenden Monate extrem schwierig waren. Die Finanzkrise ist aus den Vereinigten Staaten auf die ganze Welt übergeschwappt und hat sich zur ersten globalen Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit entwickelt. Darauf muss die Welt nun eine globale Antwort finden. Europa und die USA müssen an einem Strang ziehen. Luxemburg ist als Volkswirtschaft zu klein, als dass es aus eigenen Kräften Wachstum erzeugen könnte.
Was die angesprochene Staatskrise anbelangt, so bleibe ich dabei, dass die Monarchie die ideale Staatsform für ein Land wie Luxemburg ist, das auf einen Staatschef nicht verzichten kann, der über politischen Parteien und gesellschaftlichen Strömungen steht.
Luxemburger Wort: Kann Großherzog Henri diese Rolle noch glaubhaft wahrnehmen, nachdem er in der Euthanasie-Frage derart eindeutig Stellung bezogen und seine persönliche Meinung geäußert hat?
Jean-Claude Juncker: Auch ein Staatschef hat das Recht auf eine eigene Meinung. Allerdings dürfen seine persönlichen Ansichten nicht dazu führen, dass sie das gesamtstaatliche Gefüge blockieren. Weil diese Gefahr aber wegen der Haltung des Großherzogs zum Euthanasie-Gesetz bestand, musste ich die Meinungsverschiedenheit öffentlich machen. Schließlich handelte es sich um eine grundsätzliche staatspolitische Frage, die es galt, im Licht der Öffentlichkeit zu beantworten. Die Antwort, die wir gefunden haben, stellt alle Beteiligten zufrieden.
Luxemburger Wort: Belasten diese Ereignisse das Verhältnis zwischen dem Staats- und dem Regierungschef?
Jean-Claude Juncker: Das Verhältnis zwischen Staats- und Regierungschef hat so zu funktionieren, wie es das institutionelles Gefüge des Großherzogtums vorsieht. Persönliche Stimmungen sind da fehl am Platz. Die Meinungsverschiedenheiten der vergangenen Wochen werden jedoch nicht dazu führen, dass ich auf Distanz zu Großherzog Henri gehe. Ihm gebührt mein tiefster Respekt. Großherzog Henri nimmt seine Aufgaben sehr gewissenhaft wahr. Ich arbeite gern mit ihm zusammen und ich bleibe auch weiterhin der Meinung, dass ein Land wie Luxemburg auf die Monarchie nicht verzichten kann.
Luxemburger Wort: Ausgelöst wurde die institutionelle Krise durch die Debatte um die aktive Sterbehilfe. Hat Sie die Heftigkeit überrascht, mit der Euthanasie-Befürworter und -Gegner ihre Argumente ausgetauscht haben?
Jean-Claude Juncker: Die politische Debatte hätte man ja leicht mit einem Verweis auf das Koalitionsprogramm verhindern können, in dem von einem Euthanasie-Gesetz überhaupt keine Rede ist. Der CSV wird häufig vorgehalten, sich als Machtmaschine zu gerieren. Doch auch eine Mehrheitspartei, eine Partei mit 36 Prozent Stimmenanteil und mehr hat nicht das Recht, in einer Frage von Leben und Lebensende den Andersdenkenden die eigene Meinung aufzuzwingen. So lautet jedenfalls mein Verständnis von Demokratie. Darum wollte ich diese Thematik zur Sprache bringen und unter den Abgeordneten Gewissensfreiheit walten lassen. Heute wird mir das zum Vorwurf gemacht.
Luxemburger Wort: Haben Sie Ihrer Partei denn mit Ihrer Entscheidung, den Euthanasie-Gesetzvorschlag zur Abstimmung zu bringen, Schaden zugefügt?
Jean-Claude Juncker: Diese Frage habe ich mir so nie gestellt, weil ich der Ansicht bin, dass es sich um ein zu heikles Thema handelt, als dass man es aus dem Blickwinkel der Parteipolitik betrachten sollte. Darüber hinaus bewundere ich diejenigen, bei denen in diesen Fragen nie Zweifel aufkommen, die ihre absolute Wahrheit gefunden haben und mit sich im Reinen sind. Ich habe den Eindruck, dass nicht jeder zu einer nuancierten Betrachtung fähig war. Da es hier auch um persönliche Erfahrungen geht, ändert meine Meinung zu diesem Thema in Nuancen ständig. Meine Bedenken habe ich in meiner Rede vor dem Parlament zum Ausdruck bringen wollen. Vielleicht hätte ich mich damals zurückhalten sollen. Ich wollte versöhnlich wirken zwischen Euthanasie-Gegnern und -Befürwortern, hatte jedoch mit meinen Emotionen zu kämpfen.
Luxemburger Wort: Emotionen konnte sich die Regierung nicht leisten, als es um die Rettungsaktionen von Fortis und Dexia ging. Hatten Sie in jenen Tagen und Nächten jemals die Befürchtung, dass alle Mühen umsonst sein könnten und dass beide Bankhäuser nicht mehr zu retten sind?
Jean-Claude Juncker: Wenn man solche Rettungspläne übers Wochenende, ja quasi über Nacht entwickeln und umsetzen muss, dann lässt einen die Angst nie los, dass man unter dem enormen Zeitdruck Fehler begeht. Noch größer war aber bei mir stets die Gewissheit, dass ein Nicht-Handeln noch viel dramatischere Auswirkungen haben würde. Hätten wir die beiden Banken nicht gerettet, hätten nicht nur die Mitarbeiter ihre Stelle und die Sparer ihre Einlagen verloren. Auch die Unternehmen, die sich Geld geliehen hatten, wären gefährdet gewesen. Gefährdet wären auch jene Menschen gewesen, die sich ihren Wohnungskauf mit einem Darlehen finanziert haben. Ein Geschenk an die Banken, wie böse Zungen behaupten, stellt die Rettungsaktion also mitnichten dar. Es ging darum, die Risiken für die Realwirtschaft zu minimieren.
Luxemburger Wort: Die Krise, die sich zunächst auf ein paar amerikanische Finanzinstitute beschränkte, entwickelte sich binnen Wochen zur globalen Wirtschaftskrise, die selbst alte Hasen der Finanzpolitik, wie Sie es einer sind, nicht vorhersahen. Kam das alles denn wirklich so überraschend?
Jean-Claude Juncker: Dass die Immobilienblase in den Vereinigten Staaten irgendwann platzt, und dass am Subprime-Handel ziemlich viel faul ist, haben meine europäischen Kollegen und ich unseren amerikanischen Gesprächspartnern mehrfach versucht weiszumachen, ohne dass wir Gehör gefunden hätten. Ich gebe aber zu, dass ich von der Heftigkeit und der Geschwindigkeit der Krise überrascht worden bin. Damit befinde ich mich aber in guter Gesellschaft. Oder können Sie mir jemanden nennen, der die Verbreitungsintensität mit absoluter Treffsicherheit vorhergesagt hat?
"Ohne Euro wäre Luxemburg heute Reykjavik"
Luxemburger Wort: Da fällt uns jetzt auf Anhieb niemand ein. Was uns jedoch auffällt, ist, dass die Krise Europa zu neuem Ansehen verholfen hat. Eigentlich schade, dass sich die Menschen just in Krisenzeiten auf die Vorzüge der Europäischen Union besinnen …
Jean-Claude Juncker: … na, besser spät als nie! Ich würde mir natürlich wünschen, dass die Menschen den europäischen Einigungsprozess auch sonst würdigen würden. Stellen Sie sich nur für einen Augenblick vor, wir müssten die Krise ohne Einheitswährung bewältigen. Ein heilloses Durcheinander würde Europa beherrschen. Oder um es drastischer zu sagen: Ohne Euro wäre Luxemburg heute Reykjavik. Dann hätten wir isländische Zustände.
Luxemburger Wort: Zu den schönen Seiten Europas gehört auch, dass, wie Sie zu sagen pflegen, europäische Geschichte und europäische Geografie nach 1989 wieder zueinander fanden. Wie beurteilt Jean-Claude Juncker mit Blick auf den 20. Jahrestag 2009 den Mauerfall und dessen Folgen?
Jean-Claude Juncker: Was sich 1989 ereignete, war eine glückliche Fügung. Ein Glücksfall für Europa. Damit wurde den Menschen ihre Geschichte nicht länger diktiert. Die Menschen durften ihre Geschichte wieder selbst schreiben. Jenes Nachkriegsdekret, das während Jahrzehnten die Trennung Europas zementiert hatte, war plötzlich Geschichte. Der Bedeutung dessen, was vor 1989 war, sind wir uns heute ebenso wenig bewusst, wie wir den Ist-Zustand gebührend einzuschätzen wissen. Dabei ist es noch nicht so lange her, dass von Mitteleuropa aus Raketen auf Luxemburg gerichtet waren.
Luxemburger Wort: Viel Lob als Krisenmanager hat EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy eingeheimst, ob im Herbst beim Kampf gegen die Finanz- und Wirtschaftskrise oder im Sommer bei der Behebung des Kaukasus-Konflikts. Hätte die Europäische Union ähnlich wirksam agiert, wenn ein kleines Mitgliedsland die Ratspräsidentschaft innegehabt hätte?
Jean-Claude Juncker: Die französische Ratspräsidentschaft war alles in allem eine erfolgreiche, weil sie in den zentralen Fragen richtig gehandelt hat. Mag sein, dass die größeren Staaten es manchmal einfacher haben. Doch auch die Ratspräsidentschaften kleinerer Staaten haben Krisen erfolgreich zu meistern gewusst, auch wenn sie sich dabei zeitweise Rückendeckung von ihren größeren Partnern einholen mussten. Der Unterschied zwischen Groß und Klein wird mit dem Reformvertrag ohnehin hinfällig, weil das gesamte institutionelle Gefüge gestrafft und wirksamer aufgestellt wird.
Luxemburger Wort: Ihre Beziehungen zum scheidenden US-Präsidenten George W. Bush sowie zum früheren russischen Präsidenten Wladimir Putin waren stets gut. In der Welt genießen beide indes nicht gerade das beste Ansehen. Wie erklären Sie sich das?
Jean-Claude Juncker: Die Zeiten ihrer jeweiligen Präsidentschaft waren für beide keine einfachen. Eine endgültige Bilanz der Ära Bush wird man meiner Ansicht nach erst in zehn Jahren ziehen können. Wobei diese Bilanz unbedingt vor dem Hintergrund der traumatischen Ereignisse des 11. September 2001 erfolgen muss. Was Wladimir Putin angeht, zu dem ich ein fast noch besseres Verhältnis pflege als zu George W. Bush, so ist es ihm gelungen, seinem Land und dem russischen Volk einen gewissen Stolz zurückzuerobern, auch wenn er die Interessen Russlands zeitweise mit brachialer Rhetorik verteidigte.
Luxemburger Wort: Kann Bush-Nachfolger Barack Obama die hohe Erwartungshaltung erfüllen?
Jean-Claude Juncker: Der künftige US-Präsident wird seinem Land und den Leuten gewiss guttun. Einem neuen Anfang liegt schließlich stets ein neuer Zauber zugrunde. Ich gehe aber davon aus, dass Barack Obama für die Europäische Union kein pflegeleichter Fall wird.
Luxemburger Wort: In gut fünf Monaten stehen Landeswahlen an. Wird der Premierminister auch nach dem 7. Juni 2009 Jean-Claude Juncker heißen?
Jean-Claude Juncker: Wenn die CSV die Wahlen gewinnt, dann ja.
Luxemburger Wort: Und wie definieren Sie "Wahlen gewinnen"? Noch einige Prozentpunkte zulegen? Das Resultat vom Juni 2004 bestätigen?
Jean-Claude Juncker: Es wäre vermessen von mir, anzunehmen, meine Partei könnte das Ergebnis von 2004 noch verbessern. Unser Schicksal liegt in der Hand der Wähler, die am 7. Juni ihr Urteil über die in den vergangenen fünf Jahren geleistete Arbeit zu fällen haben.
Luxemburger Wort: Wären die Krisen der vergangenen Monate nicht gewesen: Welche Gesetzprojekte hätte der Premierminister in dieser Zeit gerne vorangebracht?
Jean-Claude Juncker: Ich hätte eine Reihe von Vorhaben, die beim Staatsministerium anhängig sind, bearbeiten können. Dazu zählen leichte Anpassungen am Pressegesetz, der Zugang der Öffentlichkeit zu staatlichen Informationen und in Teilen die Verwaltungsreform.
Luxemburger Wort: Als langjähriger Arbeits- und Beschäftigungsminister dürfte Jean-Claude Juncker die Verwirklichung eines anderen Vorhabens, nämlich die Einführung des Einheitsstatuts, mit besonderer Genugtuung zur Kenntnis genommen haben.
Jean-Claude Juncker: Gar kein Zweifel, ja. Ich sehe das statut unique als eine weitreichende gesellschaftspolitische Reform. Mit der Jahrhundertreform Einheitsstatut schütten wir den Graben zwischen Angestellten und Arbeitern zu.
Quelle: Luxemburger Wort, 31. Dezember 2008, Joelle Merges, Marc Schlammes