Wir wären ohne den demokratischen Staat allesamt erledigt

Die Ideologie der Vermehrung des Geldes ohne Arbeit und Schweiß ist brutal gescheitert. Die weltweite Finanzkrise, die wir in den vergangenen Monaten erlebt haben und in den kommenden Monaten weiterhin erleben werden, hat es in sich. Sie stellt neueres Denken infrage und wird älterem Denken, wenn auch in aufgefrischter Form, eine erstaunliche Renaissance bescheren. Und dies gleich in mehrfacher Hinsicht. Jean-Claude Juncker schreibt im Rheinischer Merkur

Seit nunmehr 20 Jahren gilt es als chic – auch in Europa -, den freien Kräften des Marktes eine positivere Gestaltungskraft zuzuerkennen als dem normativen Wirken der öffentlichen Hände. Die postmodernen Schlachtrufe beherrschten die Debatten der letzten Jahrzehnte. Wer sich gegen überzogene Privatisierung zur Wehr setzte, der gehörte ipso facto zum ökonomischen alten Eisen. Wer sich der maßlosen Deregulierung in den Weg stellte, dem wurde das Mitspracherecht mit Hinweis auf die Zwänge der Globalisierung abgesprochen. Wer sich für staatliche Umrahmung der sich hemmungslos gebärdenden Finanzmärkte einsetzte, musste sich den Vorwurf gefallen lassen, einem rückwärtsgewandten Staatsdenken anzuhängen. Wer auf das Primat der Politik verwies, dem wurde Wirklichkeitsferne attestiert. 

Der freie Markt wird es schon richten, das lehrten uns die Klugen dieser Welt. Der Staat ist nicht die Lösung, sondern das Problem, so belehrten uns die Schnellverdiener und die Abkassierer unserer Tage. Uns wurde gesagt, wir brauchten den bescheidenen und schlanken Staat, der sich exklusiv um die Nachtruhe sorgen und tagsüber den Mund halten sollte. 

Der Staat, so wollten es Neo-Neoliberale aller Schattierungen, solle seinen Elan bremsen, um den Marktkräften die Vorfahrt zu sichern. Wer diese neue Turbo-Welt nicht wollte, der galt als antiquiert und nicht auf der Höhe unserer Zeit. 

Und jetzt? Die Krise des internationalen Finanzsystems, maßgeblich durch amerikanisches und angelsächsisches Fehlverhalten herbeigeführt, lässt die Gewissheit wachsen, dass die Zeit gekommen ist, in der eine verrückt gewordene Welt wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden muss. Die freien und unkontrollierten Marktkräfte haben einen riesigen Haufen von Scherben hinterlassen, den die öffentlichen Hände zusammenkehren müssen. Bei der Aufräumarbeit müssen sie sich von einigen Grundprinzipien – die früher einmal Grundeinsichten waren – leiten lassen. 

Die Vorstellung, man könne, ohne zu arbeiten, reich werden, ist ein Trugschluss. "Lassen Sie Ihr Geld für sich arbeiten": Dieser Satz gehört aus der schreierischen Werbung der Finanzinstitute gestrichen, ja, er müsste sogar unter Strafe gestellt werden. Banken diesseits und jenseits des Atlantiks haben versucht, diesem Werbeslogan dadurch auf die Beine zu helfen, dass sie extravagante Risiken eingingen, deren Folgen sie jedoch jetzt nicht länger schultern können. 

Die Ideologie des leichten Geldes, das heißt der zauberhaften Gewinnvermehrung ohne Arbeit und Schweiß, ist brutal gescheitert. Der Crash der modernen Geldideologie wurde zum Offenbarungseid derer, die uns glauben ließen, sie wären die neuen Herren der Welt, auf die wir zu hören hätten. 

Die Vorstellung, die freien Kräfte des Marktes wüssten es besser als Staaten und zum normativen Handeln legitimierte Regierungen und Parlamente, hat ebenfalls Schiffbruch erlitten. Die freien Marktkräfte haben den Finanzkarren an die Wand gefahren, und die Verantwortlichen für diesen Schrott wenden sich jetzt händeringend an den Staat, um das zerbeulte Fahrgestell wieder fahrtüchtig zu machen. Der Staat wird auch für erneute Fahrtüchtigkeit sorgen müssen, weil er den totalen Verkehrskollaps verhindern muss. Er muss es tun, damit den Wageninsassen – die weit vom Steuer ihres ferngelenkten Gefährtes saßen – kein dauerhafter Schaden entsteht. 

Fazit aus all dem: Wie uns die Katholische und – allgemeiner gefasst – die Christliche Soziallehre lehrt, produziert der Markt allein keine Solidaritätsergebnisse. Die produziert einzig und allein und auf Dauer der die Dinge organisierende demokratische Staat. Die Staatsverleugner aus Wirtschaft und Finanzen sollten dem rettenden Staat in der Endstunde ihres uns allen verordneten Systems wenigstens Respekt zollen. Ohne ihn wären sie und wir alle erledigt. 

Und die, die dem Staat mehr vertrauten und zutrauten als den Marktkräften, sollten sich vor dem Denkfehler hüten, der Staat könne alles. Er kann es nicht. Aber er kann Vieles, wenn er die Marktkräfte dort mobilisiert, wo dynamische Risikobereitschaft gebraucht wird und dort dominiert, wo unüberlegte Risikobereitschaft sich zur blinden Profitmaximierungsmaschine pervertiert. 

Quelle: Rheinischer Merkur, 16. Oktober 2008