“Ungebrochene Begeisterung”

Premierminister Jean-Claude Juncker im Revue-Interview: “Wir wissen, dass wir im Jahr 2008 unsere Regierungsversprechen einlösen müssen. Bis zu den nächsten Wahlen sind es noch 18 Monate und die werden wir nutzen, um die Schulreform voranzutreiben. Wir werden auch die doppelte Staatsbürgerschaft über die parlamentarischen Hürden bringen, ohne die luxemburgische Staatsbürgerschaft zu verramschen. Mir ist sehr daran gelegen, Luxemburgern und Nicht-Luxemburgern neue Begegnungspunkte zu schaffen.”

Revue: Die erste Frage ist traditionell immer die gleiche: Was erwartet uns in diesem Jahr? Wie wird 2008 aussehen?

Jean-Claude Juncker: Die gegenwärtige amerikanische Kreditkrise wird uns bis mindestens Mitte des Jahres in Atem halten, wobei sich fragt, wie sich diese Finanzkrise, ausgelöst durch den unverantwortlichen Umgang mit Hypothekarkrediten, auf die amerikanische Wirtschaft niederschlägt. Ich gehe davon aus, dass sich die wirtschaftliche Tätigkeit in den USA verlangsamen wird und sich das auch auf Europa auswirkt. Deshalb haben wir die Wachstumsprognosen in der Eurozone zurückgeschraubt.

Revue: Was bedeutet das konkret für uns?

Jean-Claude Juncker: Dass der Steuerertrag aus der Tätigkeit des Finanzplatzes geringer ausfallen wird als 2007 und vielleicht auch bescheidener, als für 2008 vorgesehen. Das bedingt eine weiterhin äußerst vorsichtige Finanz- und Budgetpolitik, die möglicherweise nochmals überprüft und angepasst werden muss. Die öffentlichen Finanzen sind noch nicht in trockenen Tüchern. Anders gesagt, die über die Fonds vorgesehenen Projekte sind nicht abgesichert. Allerdings kann ich hier und heute die Tragweite der fehlenden Einnahmen nicht absehen. Deshalb muss der Staat weiterhin sparen. Und kann eine steuerliche Entlastung der Einzelpersonen nicht ins Auge fassen.

Revue: Gehört es nicht gewissermaßen zur Tradition, dass Sie bei der Auf- und Vorstellung des Budgets warnen und sich Ende des Jahres doch immer alles zum Guten wendet?

Jean-Claude Juncker: Das wird von meinen Gegnern gerne so dargestellt. Wir haben zwar im Gesamtbudget, das die drei Posten öffentliche Finanzen, Gemeinden und Sozialversicherung umfasst, einen Budgetüberschuss, doch dieser ist sechsmal geringer als das 2001 der Fall war. Im eigentlichen Staatshaushalt haben wir ein Defizit, das voraussichtlich zweimal größer ist als 2001. In den politischen Auseinandersetzungen wird das ignoriert, es wird getan, als ob die Regierung sämtliche Entscheidungen der Tripartite (Indexmodulation, Desindexierung gewisser Sozialleistungen, A.d.R.) wieder rückgängig machen könnte. Wir haben 2008 ein vorgesehenes Defizit von 500 Millionen Euro, umgerechnet 20 Milliarden LUF. Als Finanzminister würde ich das gerne beschönigen, als verantwortlicher Regierungschef muss ich es bekämpfen. Und das kann ich nur mit den besagten Sparmaßnahmen.

"Dem Sprachenalltag anpassen"

Revue: Die Juncker-Asselborn-Regierung hatte eine Reihe gesellschaftliche Änderungen angekündigt, tut sich jedoch relativ schwer damit. Das Thema Sterbehilfe sorgt für politische Wellen, die doppelte Staatsbürgerschaft ist wieder aus den Schlagzeilen verschwunden und die Schulreform kommt nur schleppend voran.

Jean-Claude Juncker: Wir wissen, dass wir im Jahr 2008 unsere Regierungsversprechen einlösen müssen. Bis zu den nächsten Wahlen sind es noch 18 Monate und die werden wir nutzen, um die Schulreform voranzutreiben. Wir werden auch die doppelte Staatsbürgerschaft über die parlamentarischen Hürden bringen, ohne die luxemburgische Staatsbürgerschaft zu verramschen. Mir ist sehr daran gelegen, Luxemburgern und Nicht-Luxemburgern neue Begegnungspunkte zu schaffen.

Revue: Zum Beispiel über die Sprache?

Jean-Claude Juncker: Wer die doppelte Staatsbürgerschaft anstrebt, muss sich in unserer Sprache zumindest verständigen können. Er braucht keine perfekten Reden zu schmeißen, soll aber Gespräche über die gängigen Probleme unseres Landes verstehen und über alltägliche Angelegenheiten sprechen können.

Revue: Das ist viel verlangt.

Jean-Claude Juncker: Der Luxemburger hat ein Anrecht darauf, dass derjenige, der neben seiner eigenen auch die luxemburgische Staatsangehörigkeit will, sich unserem Sprachenalltag anpasst. Er sollte uns verstehen und wir ihn. Das halte ich für unerlässlich. Der Zugang zur Staatsangehörigkeit führt über die Sprachenbrücke.

Revue: Sterbehilfe…

Jean-Claude Juncker; …ist eine Frage, die jeder eines Tages möglicherweise beantworten muss. Es liegt ein von der Regierung ausgearbeiteter Gesetzestext über Sterbebegleitung vor, der in meinen Augen dem gesellschaftlichen Konsens entspricht. Es gibt zusätzlich einen Gesetzvorschlag, der umstrittener ist. Ich hoffe, dass jeder Abgeordneter die mit dieser Thematik verbundene Gewissensfrage mit sich selbst und ohne Parteienstreit ausmachen kann. Der wäre hier nicht nur fehl am Platz, sondern würde die ganze politische Gemeinschaft deklassieren. Hier braucht es einen toleranten Umgang mit den Gefühlen der Menschen. Wäre ich Abgeordneter, würde mir der vorliegende Regierungstext näher stehen als die Vorschläge der Abgeordneten Huss und Err.

Solidaritätsplus

Revue: Ruhig ist es um das – im Regierungsprogramm nicht angekündigte – Einheitsstatut geworden.

Jean-Claude Juncker: An dem mir trotzdem sehr gelegen ist, weil es ein Solidaritätsplus zwischen den Arbeitnehmern bedeutet und unser Land diese Solidarität braucht.

Revue: In ihrer Bilanz über 25 Jahre Regierungsbeteiligung haben Sie im Gespräch mit "Le Jeudi" nochmals weiteren Erklärungsbedarf in Sachen Pensionsabsicherung ausgemacht. Vorhin haben Sie im Zusammenhang mit der Sozialabsicherung von Überschuss gesprochen. Ein Widerspruch?

Jean-Claude Juncker: Ich wurde in dem Interview zu den Misserfolgen meiner Regierungstätigkeit befragt. Dazu zähle ich meine Unfähigkeit, die heutige Generation für die Probleme der nächsten zu sensibilisieren. Es ist mir nicht gelungen, die Leute davon abzubringen, heute alles zu verlangen, ohne an die Konsequenzen zu denken. Ich werde ausgelacht, sobald ich die Rentenmauer anspreche. Dabei wird sie eines Tages kommen, selbst wenn wir aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung nicht wissen, wann der genaue Zeitpunkt ist. Es ist jedoch wissenschaftlich erwiesen, dass das aktuelle System einbrechen wird. Wir werden nicht die Leidtragenden sein, aber unsere Kinder. Darüber sollte man nicht lachen.

Revue: Das ist die Verantwortung einer ganzen Generation…

Jean-Claude Juncker: …die sich gesellschaftlich und politisch nicht mit dem Problem auseinander setzt. Es ist die kollektive Weigerung, einer Tatsache in die Augen zu sehen. Für mich persönlich ist es ein politischer Misserfolg. Meine diesbezüglichen Bemühungen haben mir immer nur den Vorwurf eingebracht, die Rentenansprüche der kleinen Leute kürzen zu wollen. Dabei geht es mir darum, die Renten der kleinen Leute zu wahren – über die Generationen hinaus.

Revue: Sie waren in den letzten Wochen und Monaten viel in Sachen Europa und Monsieur Euro unterwegs. Damit handeln Sie sich regelmäßig den Vorwurf einer gewissen Luxemburg-Müdigkeit ein. Ist das der Fall?

Jean-Claude Juncker: Dieser Vorwurf schmerzt mich immer wieder. Ich bin in der Regel an einem Tag in der Woche nicht im Land. Dafür arbeite ich samstags und sonntags. Ich gehe nicht auf Feste und leider nur selten ins Konzert, weil ich am Wochenende zehn Stunden täglich die in der Woche "verlorene" Zeit aufarbeite. Wobei diese Zeit nicht verloren ist, denn der Euro ist unsere Währung, für die ich eine ganz besondere Verantwortung trage. Ja, ich kümmere mich mehr um die aktuelle Währung unseres Landes, als je ein Finanzminister um den belgisch-luxemburgischen Franc. Außerdem ist die Europapolitik immer weniger vom nationalen Geschehen zu trennen. Die Mehrwertsteuer der elektronischen Dienstleistungen ist ein europäisches und ein luxemburgisches Problem. Ich brauche die europäische Zustimmung für meine luxemburgischen Entscheidungen. Über die Index-anpassung von Löhnen und Gehältern rede ich häufiger in Brüssel und Frankfurt als hierzulande. Ich verteidige europäische Standpunkte in Luxemburg und luxemburgische vor den europäischen Behörden. Dabei wäre es unendlich einfacher, in den europäischen Gremien nur über europäische Fragen zu sprechen und hierzulande nur über luxemburgische. Die Zustimmung wäre auf beiden Seiten viel breiter.

Luxemburg hat wesentlich zum Zustandekommen des Lissabonner Vertrages beigetragen

Revue: Wie schwer ist es, die Balance zu halten zwischen europäischen Zielsetzungen und nationalen Prioritäten? Manchmal entsteht der Eindruck, es gerate manches aus den Fugen, wenn Sie nicht da sind. Ich denke an die ersten Reaktionen auf die Arcelor-Übernahme durch Mittal-Steel und kürzlich an die "Affär Bommeleeër".

Jean-Claude Juncker: Mit der Arcelor-Mittal Übernahme habe ich mich in der Wüste von Mali befasst. Ich habe von dort aus mit Jacques Chirac, Tony Blair und Gerhard Schröder telefoniert, ich stand mit den Luxemburger Ministern dauernd in Verbindung. Wir leben in einer Welt der modernen Kommunikation. Wer auf Reisen ist, ist nicht jenseits von Gut und Böse. Die "Affär Bommeleeër" wäre nicht anders verlaufen, wenn ich hier gewesen wäre. Ich bin der Meinung, dass der Justizminister keinen Fehler gemacht hat. Bevor der Minister, der zuständig ist für die Polizei, etwas sagt, muss er sich ein abgerundetes Bild über alle Vorgänge machen können. Mir ist ein Minister lieber, der sich jede seiner Entscheidungen genau überlegt, weil er weiß, dass sie vor Gericht rekursfähig ist, als ein Abenteurer, der auf der Welle der demagogischen Zustimmung schwimmt, aus der Hüfte schießt und dann wahrscheinlich das Falsche macht.

Revue: Zurück zur Europapolitik und dem am 13. Dezember unterzeichneten Reformvertrag. Sind Sie auch mit der jetzt vorliegenden Light-Version des Verfassungsvertrages zufrieden?

Jean-Claude Juncker: Der Lissabonner Vertrag enthält im Wesentlichen die Punkte, denen die Luxemburger per Referendum zugestimmt haben. Hätten sie das nicht gemacht, wäre das ganze Projekt in sich zusammengebrochen. Insofern hat Luxemburg wesentlich zum Zustandekommen des Vertrages beigetragen. Jetzt müssen 27 Länder ihm nochmals zustimmen und das ist wiederum ein ganzes Stück Arbeit.

Revue: Euroskeptizismus?

Jean-Claude Juncker: Ganz bestimmt nicht. Dafür hat uns Europa zu viel gebracht. Die am 21. Dezember erfolgte, bis auf wenige Ausnahmen grenzenlose Öffnung unseres Kontinentes ist ein unwahrscheinliches Plus. Ich will die Gefahr der mobil gewordenen Kriminalität nicht klein reden, aber ich möchte die Annäherung der europäischen Länder auch nicht als nebensächlich abtun. Ich bin groß geworden in einer Zeit des Kalten Krieges, des Misstrauens, der Angst vor einer nuklearen Auseinandersetzung. Ich weiß die Annäherung von 400 Millionen Europäern zu schätzen. Mich macht dieses menschliche Zusammenwachsen, diese kulturelle Vielfalt reicher. Europa bringt Völker zusammen, nicht nur wirtschaftliche Interessen. Keine Angst mehr voreinander haben, sondern gemeinsam in die Zukunft schauen. Das ist der Zugewinn.

Revue: Fazit – Politik ist nach 25 Jahren immer noch spannend.

Jean-Claude Juncker: Es gibt nichts Spannenderes, als der Einsatz für die Lebensbedingungen der Menschen. Entweder man kann sich dafür begeistern oder nicht. Das gilt in der Politik, wie für den Arzt, Krankenpfleger, Lehrer. Der Beruf ist kein Selbstzweck. Es gibt hierzulande keine größere Schnittstelle für menschliche Schicksale, als hier an dieser Stelle. Das tröstet über Unverstandensein und Müdigkeit hinweg und gibt mir neue Kraft. Es gibt keinen schöneren Arbeitsort als den, an dem ich täglich sitze.

Revue, 2. Januar 2008, Claude Wolf