Fraktionssekretär Frank Engel zu Gast im “Land”.
Die komischerweise nach einem einzelnen europäischen Ex-Kommissar benannte Direktivvorlage zur Liberalisierung des europäischen Dienstleistungsmarktes soll nach dem Dafürhalten des Europäischen Rates tief greifend abgeändert werden. Vergessen, demnach, dass wir nunmehr seit beinahe einem halben Jahrhundert an einem europäischen Binnenmarkt basteln und dessen Vollendung versprechen: auch im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts bleibt der wichtigste Erwerbssektor unseres Kontinents, die Dienstleistungen nämlich, von den eigentlichen Regeln des Binnenmarktes ausgenommen. Der Name des Kommissars Frits Bolkestein wird wohl in die europäische Verweigerungsgeschichte eingehen. Sein Textvorschlag allerdings wird in jenen Schubladen verschwinden, die bereits so viele europäische Visionen beherbergen.
Vergessen auch die Tatsache, dass der vorliegende Text von der gesamten Prodi-Kommission abgesegnet wurde, bevor er überhaupt in die europäische Beschlussfassungsprozedur eingegeben werden konnte – und dass in dieser Kommission zahlreiche Nicht-Liberale anscheinend keine überwältigenden Probleme mit der Vorlage hatten. Nicht einmal ihr ehemals linker Präsident. Der wird eigenartigerweise in seinem Heimatland noch immer ernst genommen – als Ikone des italienischen Ablegers der “Demokratischen Partei Europas”, deren Fraktion im europäischen Parlament von den Liberalen dominiert wird. Wie sich ein Mensch doch ändern kann.
Kann man als Nicht-Liberaler für einen Text sein, der doch auch unzähligen Liberalen Magen- und Darmschmerzen bereitet? Eigentlich ja. Wenn man für den Binnenmarkt, den umfassenden, den gesamteuropäischen, ist, dann muss man die so genannte Bolkestein-Direktive als unverzichtbaren Bestandteil seiner Verwirklichung betrachten. Natürlich hat man dann ein ernstes Problem. Man ist nämlich nicht mehr besonders “sozial”. Und wer würde sich ausgerechnet in Luxemburg derartiges nachsagen lassen wollen?
Die Schubladisierung der “Bolkestein-Richtlinie” ist in ihrem zeitgenössischen Kontext sehr nachvollziehbar. Schließlich ist sie nicht über die Maßen beliebt, und die Abneigung gegenüber diesem Werk droht, auf andere Bereiche europäischer Politik überzuschwappen – wenn nicht sogar auf Europa selbst, also auf die europäische Integration. Gar unpässlich zu einem Moment, da die Ablehnung der Europäischen Verfassung stellenweise bedenkliche Ausmaße annimmt. Die Stimmbürger könnten unter dem Eindruck, das wahre Gesicht Europas sei das von Frits Bolkestein, tatsächlich einem Vertrag ihre Zustimmung verweigern, der von interessierter Seite als neoliberal und unsozial verschrien wird. Als ob diese Adjektive auf irgendeine Verfassung passen würden?
Das eigentliche Problem mit der Dienstleistungsdirektive, die schlussendlich keine mehr sein wird, ist, dass sich heute endlich in aller Deutlichkeit zeigt, dass man nicht alles gleichzeitig und miteinander haben kann. Ein gesamteuropäischer Markt für Dienstleistungen, hundertprozentiger Schutz vor sozialem Druck, real existierende Konkurrenz zwischen dem Atlantik und der ukrainischen Grenze, unantastbare und garantierte hohe Löhne – dies alles ist ganz einfach unvereinbar. Es kann das eine geben, oder das andere. Es kann das geben, was Kommissar Bolkestein sich vorstellte – oder es gibt schlicht keinen Binnenmarkt für Dienstleistungen. Drei Viertel der aktuellen und zukünftigen europäischen Wirtschaft müssen ganz einfach von dessen Regeln ausgenommen sein, wenn das, was die Dienstleistungsrichtlinie in ihrer heutigen Verfassung beinhaltet, in den Müllkorb wandert. Das ist kein kontinentales Drama. Man muss es nur wissen.
Bei der “Bolkestein-Direktive” geht es um weit mehr, als darum, ob nun das Herkunftslandprinzip bei mobilen Telefondienstleistungen gilt oder nicht. Es geht nämlich darum, ob die mehrheitliche Geisteshaltung in den Stammlanden der Europäischen Union einen echten Binnenmarkt überhaupt zulässt. Die Antwort auf diese Frage fällt heute eindeutig negativ aus. Und das ist keine harmlose Feststellung.
Frank Engel