Der weiße Mann im globalen Dorf

“Wir sollten es deshalb unterlassen, so zu tun, als wären wir die Herren der Welt”. Ein Beitrag von Jean-Claude Juncker im Rheinischen Merkur

Früher ortete man es in Bonn, heute vermutet man es in Berlin: das Sommerloch. Die Politik steht still, nur wenige Stallwächter drängen in die Schlagzeilen. Die inhaltliche Auseinandersetzung ruht, die Spitzenakteure sind müde und überlassen einigen wenigen Leichtmatrosen das Geschäft.

Gegen die politische Sommerruhe ist nichts einzuwenden. Abstand zu den großen und kleinen Dingen des alltäglichen Politstresses zu gewinnen kann heilsam sein, sowohl für die Stichwortlieferer der Abendnachrichten als auch für die Konsumenten der Tag für Tag angebotenen Politkost. Aber das Sommerloch darf sich nicht zur politischen Fastenzeit auswachsen. Ferienzeit sollte Denkzeit sein. Die Juli- und Augustwochen sollten Bürger und Politiker nutzen, um sich mit Themen zu beschäftigen, die übers Jahr hinweg nicht die Beachtung finden, die sie eigentlich verdienen. Der Sommer sollte die Zeit des Wichtigen, des Fundamentalen und des Zentralen sein. Wenn wir uns in den Sommerwochen dem Grundsätzlichen nähern, können wir die vielen Ereignisse, die uns durch den Rest des Jahres begleiten, besser einreihen und sortieren.

Um Naheliegendes besser zu sehen, braucht man Zeit. In den Ferien haben wir Zeit. Zeit, um das zu sehen, was wir sonst kaum zur Kenntnis nehmen, obwohl es uns ins Auge springen müsste. Zeit, um das zu betrachten, wofür wir normalerweise nur minimale Blicke haben – wohlwissend, dass schnelle Blicke keine Gesamtansicht entstehen lassen. Eine komplette Sicht der Dinge dieser Welt erhält man dann, wenn man sich die Welt als ein Dorf mit hundert Einwohnern vorstellt. Was heißt hier: vorstellt? Die Welt ist ein Dorf, ein globales Dorf.

Im hundertköpfigen Weltdorf leben 57 Asiaten, 21 Europäer, 14 Nord- und Südamerikaner und acht Afrikaner. Wir Europäer sollten uns vergegenwärtigen, dass wir in der Minderheit sind: neben uns, mit uns, leben 79 Nicht-Europäer. Wir sollten es deshalb unterlassen, so zu tun, als wären wir die Herren der Welt, nach deren Maßstäben und Regeln sich der übrige Planet auszurichten hätte. Wir sollten aufhören, uns über das vor allem wirtschaftliche Vorpreschen der Asiaten – immerhin 57 der 100 Dorfeinwohner – in einer Art und Weise aufzuregen, die zeigt, dass wir Europäer – 21 von 100 Einwohnern – es nur schwer ertragen, dass Nicht-Europäer einen Platz an der Sonne ergattern wollen. Es ist in unserem Interesse, dass die 57 asiatischen Mitbewohner den Wohlstand der 21 europäischen materiellen Spitzenreiter anstreben. Viele europäische Arbeitsplätze hängen inzwischen von der asiatischen Wohlstandsaufholjagd ab. Wir sind nicht mehr allein tonangebend im Dorf. Das Dorf redet längst nicht mehr nur europäisch. Wir sollten uns an dem vielfaltigen Sprachengewirr erfreuen, statt den lächerlichen Versuch zu starten, die uns geläufige europäische Einheitssprache zum allgemeingültigen Umgangsesperanto aller Dorfbewohner zu dekretieren.

In unserem Weltdorf suchen 70 Farbige und 30 Weiße ihr Glück. Wir sollten uns für Gegenwart und Zukunft merken: Die Vormachtstellung des “weißen Mannes” hat ausgedient. Die Welt ist bunt, sie wird jeden Tag bunter. Wir europäischen Weißen sollten die Vielfarbigkeit unseres Dorfes nutzen, um an den Leistungen der Nicht-Weißen unsere Freude zu haben und um für unsere unbestreitbaren Leistungen – Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Toleranz – bei den anderen Dorfbewohnern zu plädieren. In unserem Dorf geht es nicht gerecht zu. 80 von 100 unserer Mitbewohner leben in katastrophalen hygienischen Verhältnissen, 70 können nicht lesen und nicht schreiben, 75 haben keine Kleidung und kein Dach über dem Kopf, die Hälfte unserer Nachbarn ist unterernährt. Würden wir uns das ganze Jahr über mit den Sorgen und Nöten, mit der Chancen- und Hoffnungslosigkeit unserer Mitmenschen im Dorf intensiver beschäftigen, so wüssten wir: Wenn sich die Verhältnisse nicht ändern, dann wird unsere Dorfgemeinschaft explodieren. Und zwar gewaltig.

Hinzu kommt, dass 50 Prozent unserer Mitmenschen Angst vor Krieg, Folter und Gefängnis haben. Wir wissen es in Europa nicht zu schätzen, was Frieden, Freiheit und staatlich geschützte Rechtsordnung wert sind. Wir sollten es schnell wieder lernen. Und dann auch noch dies: 52 der 100 Dorfbewohner sind Frauen, also nur 48 Prozent sind Männer. Die in unseren Gesellschaften vielerorts noch anzutreffende Dominanz der Männer ist strikt anachronistisch.

Ein Übriges gehört zum Dorfbild: Nur acht der 100 Dorfbewohner haben Geld auf einem Bankkonto oder in ihrem Portemonnaie. Die anderen haben nichts oder weniger als einen Euro pro Tag zur Verfügung.

An dieses Dorfbild, für das die Sommerruhe uns den Blick öffnet, sollten wir nach den Ferien und vor den nächsten Ferien denken, bevor wir auf hohem Niveau klagen.

Rheinischer Merkur, 9. August 2007, Jean-Claude Juncker