„Die Vision der EU-Gründerväter erfüllen“

Private und politische Bestandsaufnahme im LW-Interview zum Geburtstag des christlich-sozialen Vollblutpolitikers Jacques Santer

eu_santer.jpgDas Gespräch führte Wort-Journalist Joseph Lorent

Vorweg eine ganz direkte Frage: Was empfinden Sie heute am 70. Geburtstag beim Rückblick auf Ihr bisheriges Leben und welche Erwartungen haben Sie an die Zukunft?

Ich finde, dass die 70 Jahre schnell vergangen sind und man nicht den Eindruck hat, dieses Alter bereits erreicht zu haben. Daher löst die gestellte Frage schon eine kleine Schockwirkung aus, weil gewusst ist, dass man mit Sicherheit den besten Teil seines Lebens hinter sich hat und sich jetzt ganz aktiv auf den Ruhestand vorbereiten muss.

Brachten Ihnen die zum größten Teil von der Politik geprägten bisherigen Lebensjahre Genugtuung oder würden Sie, im hypothetischen Fall eines möglichen Neuanfangs, Ihrem Leben eine andere Orientierung geben?

Nein, denn es tut mir nicht Leid, dass ich einen großen Teil meines Lebens in der Politik verbracht und dabei mitgeholfen habe, verschiedene Sachen im Dienste der Bürger dieses Landes zu gestalten. Dies gilt ebenfalls für Europa, wo ich bekanntlich Präsident der Europäischen Kommission war. Dabei hatte ich viel Genugtuung, doch sind selbstverständlich auch Fehlschläge damit verbunden gewesen. Auch wenn mir nicht immer alles gelang, was ich mir vorgenommen hatte, so habe ich global gesehen doch eine gewisse Genugtuung mit dem Erreichten. Mit Sicherheit würde ich verschiedene Sachen anders angehen, weil man im Nachhinein stets klüger ist, aber insgesamt gesehen habe ich kein Bedauern über das, was vollbracht wurde und was meine persönliche Einstellung zur Politik betrifft.

An der europäischen Fortentwicklung mitgewirkt

Alles in allem hatten Sie während fünf Jahrzehnten in verschiedenen Funktionen aktiven Anteil am politischen Leben in Luxemburg und auf europäischer Ebene. Welchen Wandel hat die Politik insgesamt während dieser Zeit erfahren?

Betrachte ich Luxemburg, dann komme ich nicht an der Feststellung vorbei, dass kaum ein Land sich innerhalb einer Generation so schnell gewandelt hat wie es für das Großherzogtum innerhalb der letzten 25 Jahren der Fall war. Das Land, in dem wir heute leben, ist zweifellos ein anderes als jenes, wo ich mich in den 60er-Jahren in der aktiven Politik engagierte. Im europäischen Bereich war ich ganz froh, auf drei Ebenen an der Fortentwicklung mitgewirkt zu haben. Dies gilt für den Luxemburger EU-Ratsvorsitz, den ich zweimal innehatte, und zwar 1985, als der Binnenmarkt geschaffen wurde, und 1991, als die Vorbereitungsarbeiten für die beiden Regierungskonferenzen zum Maastrichter Vertrag erledigt wurden. Späterhin war ich als Präsident der Europäischen Kommission beteiligt an der Vervollständigung und Vertiefung des Binnenmarktes, an der Einführung des Euro zum 1. Januar 1999 und 1997 an der Ausarbeitung der Agenda 2000, die das Konzept für die Erweiterungsstrategie der Europäischen Union festlegte.

Wie in jedem Menschenleben hat es auch bei Ihnen Höhen und Tiefen gegeben. Was waren für Sie die größten Highlights, und welche schwierigen Momente möchten Sie nicht mehr erleben?

Eine faszinierende Periode war für mich, als ich 1974 CSV-Nationalpräsident in einer Periode wurde, wo meine Partei erstmals in der Opposition saß, und als es uns 1979 unter unserem politischen Leader Pierre Werner in wirklich schwierigen Zeiten gelang, wieder an die Macht zu kommen. In diesen Zeiten konnte die Partei von Grund auf erneuert werden, und ich habe die Genugtuung zu sehen, dass die damals von uns für die Politik mobilisierten jungen Leute sich auch heute noch durchsetzen können. Ein zweites Highlight bestand darin, dass wir es unter wirklich schwierigen Bedingungen fertig brachten, die Restrukturierung der Stahlindustrie Anfang der 80er-Jahre zu vollbringen und diese mit der wirtschaftlichen Entwicklung anderer Sektoren zu verbinden, wie beispielsweise der heute weltweit größten Satellitenbetreibergesellschaft SES. Ein anderer Höhepunkt, der erst nachträglich so richtig begriffen wurde, war 1986 die Einführung der Investmentfonds. Damit wurde gleichzeitig die Grundlage für die rasante Entwicklung des Finanzplatzes geschaffen. Schwierigkeiten und ganz viele Gedanken bereitete mir die ganz schwarze Periode von Ende der 70er- bis Anfang der 80er-Jahre, wo nicht nur die Überlebenschancen der Stahlindustrie zur Diskussion standen, sondern auch der Finanzplatz international in Schwierigkeiten geraten war. Schwierigkeiten eher politischer Natur kannte ich auf europäischer Ebene. Beim näheren Nachdenken über diese sage ich mir heute, man hätte auch anders reagieren können. Hiermit meine ich die Demission der Europäischen Kommission, deren Integrität als solche nicht in Frage gestellt wurde, in der aber verschiedene Kommissare sich so benahmen, dass sie nicht mehr das Vertrauen der Politik besaßen. Wenngleich man sich im Nachhinein eventuell sagt, man hätte auch anders vorgehen können, so war es letztlich trotz alledem eine Chance, weil sich die Erkenntnis durchsetzte, dass der Kommissionspräsident mehr Befugnisse und mehr Verantwortungen bekommen müsste. Wenn Sie mich auf persönliche Entscheidungen ansprechen, die man vielleicht nicht hätte nehmen sollen, dann war es sicherlich diejenige, die ich damals im Bewusstsein, der Partei zu helfen, traf, um Spitzenkandidat für die Gemeindewahlen vom 10. Oktober 1999 in der Stadt Luxemburg zu werden. Diese Kandidatur für den Bürgermeisterposten wurde von den Bürgern der Hauptstadt unter Hinweis auf meine vorherigen Funktionen als Staatsminister und Kommissionspräsident nicht ganz ernst genommen, obwohl sie mir ganz ernst gemeint war. Es war nicht mein Wille gewesen, in diese Richtung zu gehen, aber ich war letztlich doch verwundert, dass der Bürgermeisterposten der Hauptstadt nicht den Stellenwert in der Gesellschaft einnahm, wie ich ihn mir vorstellte und er ihn eigentlich haben müsste.

Wie sehen Sie als erfahrener Europapolitiker in diesem europäischen Jubiläumsjahr 2007 den Zustand der Europäischen Union?

Europa ist, wie es so schön in den Sonntagsreden heißt, tatsächlich an einem Scheideweg angelangt. Auf der einen Seite sehen wir ein gewaltiges wirtschaftliches Potenzial in Form des größten Binnenmarktes der Welt. Auf der anderen Seite stellt man aber fest, dass Europa es nicht fertigbrachte, die politischen Konsequenzen aus seiner wirtschaftlichen Dimension zu ziehen. Wenn es nicht erreicht, was im so genannten Verfassungsvertrag an Substanz vorgesehen ist, nämlich seine Institutionen so zu gestalten, dass die Entscheidungskraft der EU auf politischer Ebene erhalten bleibt, dann laufen wir Gefahr, zu einer gehobenen Freihandelszone auszuufern. Damit würde die Vision der Gründerväter von einem Europa, das seine politische Rolle im internationalen Umfeld über den Weg einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zu einer gemeinsamen Verteidigungspolitik spielen kann, in dieser Form nicht erfüllt werden. Daher müssten die vielen Mitgliedstaaten, die noch an diese Vision glauben und den Verfassungsvertrag bereits ratifiziert haben, darauf einwirken, dass unter den veränderten Situationen von heute alles dran gesetzt wird, damit die Substanz erhalten bleibt.

Alle Volksgruppen integrieren

Wahrscheinlich sind Sie derjenige Politiker, der wie kaum ein anderer jene drei Werte verkörpert, die im Parteinamen der CSV enthalten sind. Wie steht es heute um diese Werte in der Politik?

Es stimmt, dass ich mich stets für die Beibehaltung der drei Buchstaben im Parteinamen einsetzte, auch wenn diese durch die Entwicklung unserer Gesellschaft einen anderen Inhalt bekommen. Selbstverständlich sind wir bei weitem keine konfessionelle Partei mehr, wie dies noch vor Jahrzehnten der Fall war. Für uns beruht das C auf gemeinsamen Werten, die unsere Kultur und unsere Zivilisation ausmachen. Da stehen an erster Stelle die Würde und die Unantastbarkeit des Menschen, die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit. Dies sind in der laufenden gesellschaftspolitischen Diskussion mit ihren ethischen Fragen jene Hauptpunkte, an denen wir uns auch weiterhin orientieren müssen. Was die Volkspartei betrifft, so war ich immer darauf ausgerichtet, dass alle Volksgruppen sich in diese Politik integriert fühlten und keine Exklusion gegen irgendeine Gruppe ausgesprochen wurde. Wenngleich wir verständlicherweise unsere Politik auf einer gesunden wirtschaftlichen Grundlage aufbauen müssen, so muss uns dennoch bewusst bleiben, dass Wirtschaftspolitik nur ein Mittel ist, um die soziale Kohäsion in einer Gesellschaft durchzuführen. Die Politik des sozialen Ausgleichs muss der Hauptakzent einer Volkspartei bleiben. Eine Thematik, für die ich mich auch weiterhin stark engagieren werde, sind die Wechselbeziehungen zwischen Luxemburg und der Großregion. Weil für mich die Zukunft Luxemburgs in der Großregion liegt, bin ich ganz froh, dass die luxemburgische Regierung die Großregion in das Kulturjahr 2007 miteinbezogen hat.

Welchen persönlichen Wunsch haben Sie an Ihrem 70. Geburtstag?

Dass ich noch lange in meiner Familie leben kann und dass uns die Gesundheit erhalten bleibt. Vielleicht habe ich in dieser Hinsicht in den Jahren der aktiven Politik Verschiedenes vernachlässigt.

Quelle: D’Wort, 18. Mai 2007, Joseph Lorent // © Photo EPP-ED Group