Im Télécran-Gespräch sagt Premier Jean-Claude Juncker, warum er den jugendlichen 5611-Protestlern nicht Recht gibt, warum er sich in der schwarz-roten Koalition wohl fühlt, wie er sich die Fähigkeit zur Selbstkritik bewahrt und mit persönlichem Stress umgeht.
Das Gespräch führten die Télécran Journalisten Roland Arens und Claude François
Télécran: Herr Staatsminister, wenn man zwei Begriffe nennen soll, die das Jahr 2006 charakterisieren, dann denkt man schnell an Mittal und Tripartite. Fallen Ihnen spontan andere Stichworte ein?
Jean-Claude Juncker: Mir fällt Arcelor-Mittal ein, was eine schwierig zu bewältigende Frage war. Mir fällt zur Tripartite ein, dass es ein Vorgang mit einem außergewöhnlichen Schwierigkeitsgrad war, weil die Zeitungen und Politiker drei Monate vor dem Abkommen sagten, es werde kein Abkommen geben und die Tripartite sei am Ende.
Aber mir fällt auch ein anderes Thema ein, mit dem sich Anfang des Jahres intensivst beschäftigt wurde: die Vogelgrippe, über die niemand mehr spricht. Dabei ist dies ein Thema mit Wiedergeburtspotenzial.
Zurück zu Arcelor-Mittal. Nicht alles ist wohl so verlaufen, wie es gedacht war. Sind Sie rückblickend dennoch zufrieden mit der Fusion?
Ich habe diese Fusion nicht erlebt als eine Veranstaltung, die in einem hohen Grad vergnügungssteuerpflichtig gewesen wäre. Nachdem der Sitz des Unternehmens und das Entscheidungszentrum in Luxemburg sind, die Dividenden in Luxemburg versteuert werden und wir alle Garantien bekommen haben, was die Investitionen und das Beibehalten der Aktivitäten in der Luxemburger Stahlindustrie anbelangt, habe ich am Ende mit gutem Gewissen gesagt, wir könnten das positiv begleiten. Seither habe ich regelmäßig Gespräche mit Herrn Mittal und anderen Verantwortlichen der Branche, so dass ich finde, dass wir noch mitmischen beim Stahlkochen in Europa.
Herr Mittal war damit einverstanden, dass ein Luxemburger Generaldirektor werden würde. Ich habe den Rücktritt von Roland Junck sehr bedauert, aber ich bin für diese Entscheidung nicht in Haftung zu nehmen.
Die Tripartite und die Folgen: Haben Sie Verständnis für die Jugendlichen, die gegen das Gesetzesprojekt 5611 auf die Straße gegangen sind?
Die Tatsache, dass viele Jugendliche, nicht alle, auf die Straße gegangen sind, um ihre Besorgnis über den Arbeitsmarkt zum Ausdruck zu bringen, hat mich schon beeindruckt. Ich finde es gut, wenn sich junge Leute um ihr eigenes Leben kümmern und sich zu Wort melden.
Ich habe bei vielen Wortmeldungen eine gewisse Ängstlichkeit herausgehört, was die Zukunftschancen anbelangt. Damit muss man sich politisch-inhaltlich beschäftigen. Nachdem fast alle Politiker und das ganze Land den Jugendlichen Recht gegeben haben, will ich aber auch sagen, dass ich ihnen nicht Recht gebe. Ich finde das, was der Arbeitsminister vorgeschlagen hat, richtig. Arbeitslosigkeit bekämpft man durch Arbeit und nicht durch eine Unterstützung, die nicht zu Arbeit führt.
Ein weiteres Kapitel der Tripartite, das Einheitsstatut für Arbeiter und Beamte, schlägt jetzt hohe Wellen. Warum ist diese Reform gerade jetzt so wichtig?
Sie ist heute nicht wichtiger als vor zehn, zwanzig Jahren. Es wurde schon darüber gesprochen, als ich ins Arbeitsministerium kam. Das war immer eine große Forderung der Gewerkschaften. Irgendwann kommt eben der Moment, in dem man ein für alle Mal klären muss, ob man bei einem zweigeteilten Statut bleiben will oder nicht. Da es der Wunsch der Gewerkschaften war, diese Frage anzugehen, haben wir sie in das Tripartite-Abkommen einbezogen – wohl wissend, dass dies eine wichtige Strukturreform ist – alle Fraktionen im Parlament sind dieser Meinung -, und wohl wissend, dass es extrem kompliziert sein würde und schwierige Verhandlungen bevorstanden.
Nach dem Scheitern der Verhandlungen ist jetzt die Regierung gefordert. Erwarten Sie eine schnelle Einigung?
Die Regierung ist gefordert, neue Vorschläge zu unterbreiten. Dann muss man sehen, wie die Sozialpartner darauf reagieren und entscheiden, wie der Prozess weitergeführt werden wird. Wir müssen uns in dieser gesellschaftspolitisch wichtigen Frage die Zeit nehmen, einen Konsens herbeizuführen.
Muss man in der Politik Stichdaten vorgeben, um die Dinge voranzubringen?
Wenn ich nicht im März 2005 gesagt hätte, ich wollte am 2. Mai 2006 im Parlament vortragen, welche Reformen die Regierung anpackt, insbesondere bei der Haushaltskonsolidierung, und wenn ich nicht unter dem Protestgeheul der gesamten Presse einen Zeitabschnitt definiert hätte, innerhalb dessen man zu Potte kommen müsse, dann hätten wir das nicht zustande gebracht. Die Diskussion um das Einheitsstatut zeigt: Irgendwann muss man die Notenblätter beiseite legen und auswendig singen.
Die Koalition hat jetzt mehr als die Hälfte ihrer Amtszeit hinter sich. Worin besteht für Sie der Unterschied zwischen Schwarz-Blau und Schwarz-Rot?
Ich habe mich in der Regierungskoalition mit der Demokratischen Partei nicht unwohl gefühlt, weil wir einige Dinge bewegt haben. Ich fühle mich in der Koalition mit der LSAP wohl, weil wir intensiver zukunftsorientierte Substanzfragen diskutieren, als das vorher der Fall war.
Europa: Grundlegende Fragen
Was werden international die beherrschenden Themen des neuen Jahres sein? Eine schwierige EU-Ratspräsidentschaft für Deutschland kündigt sich an.
In der EU steht die grundlegende Frage an, wie wir mit dem verfassungsgebenden Prozess weiterfahren wollen. Die Erwartung, dass man am Ende des deutschen Ratsvorsitzes im Juni klare Sicht haben wird auf alles, was zu tun ist, um zu einem belastbaren Grundvertrag zu kommen, ist etwas überzogen. Die deutsche Präsidentschaft wird nicht soviel liefern können, wie jetzt von ihr erwartet wird.
Die internationale Lage sehe ich nicht sich in eine Richtung bewegen, dass sie 2007 weniger angespannt wäre als 2006. Die großen geopolitischen Konfliktherde werden bestehen bleiben. Vielleicht werden andere hinzukommen. Ich gehe beispielsweise davon aus, dass wir im Frühjahr eine neue Entfachung des Kosovo-Konfliktes haben werden.
Aus diesem international unsicheren Umfeld ziehe ich die Schlussfolgerung, dass man stets als zweiten Gedanken im Kopf haben muss, dass auch die wirtschaftliche Entwicklung leiden kann unter den Vorgängen, die es geben wird im Jahr 2007 – für das ich nicht zu einem übertriebenen Optimismus aufrufe.
Am 1. Januar sind es fünf Jahre her, dass der Euro im Portemonnaie der Europäer ist. Kann man es als Erfolg werten, dass eigentlich niemand mehr vom Euro spricht?
Ich halte den Euro insgesamt für einen Erfolg. Hätten wir den Euro nicht, wären die Zinsen höher als jetzt; der Euro hat uns geschützt gegen globale Finanzkrisen, gegen die wirtschaftlichen Auswirkungen des 11. September 2001, er hat uns relativ geschützt gegen das rasante Ansteigen der Ölpreise, gegen die monetären Turbulenzen, die auf der Stelle eingetreten wären nach dem französischen und niederländischen Nein beim Verfassungsreferendum. Wir wären heute ohne Euro wesentlich weniger kaufkräftig und weniger wohlhabend als mit dem Euro. Und weil das nicht mehr thematisiert wird, geht auch keine erotische Wirkung mehr vom Euro aus.
Sie sagen, die Politiker sind Schuld am negativen Image Europas. Zudem hätten die Bürger verlernt, stolz auf Europa zu sein. Spürt man da eine gewisse Enttäuschung bei Ihnen?
Es verdrießt mich durchaus, dass es uns in Europa nicht gelingt, die Europäische Union – die weltweit als Modell begriffen wird – den Menschen so nahe zu bringen, dass sie sich selber wieder in diese Art des kontinentalen Zusammenlebens verlieben können.
Wir sind der einzige Kontinent, auf dem Frieden herrscht. Der einzige! Aber wir sind nicht gefeit gegen die Gefahr, dass wieder Unfrieden und Krieg ausbrechen, wie die Beispiele Balkan und Kosovo vor weniger als zehn Jahren gezeigt haben. Wir haben in einer großen Kraftanstrengung ab 1985 den größten Binnenmarkt der Welt geschaffen, wenn auch mit dem Defizit, dass die soziale Dimension in meinen Augen nur embryonär behandelt worden ist, was man in Ordnung bringen muss.
Der deutsche Außenminister Steinmeier meint, dass die Friedenssicherung als Begründung für Europa nicht mehr ausreiche…
…das sehe ich auch so. Viele junge Menschen sind mit dem Friedensdiskurs nicht mehr erreichbar. Aber daraus ziehe ich nicht die Schlussfolgerung, dass man ihn nicht mehr halten sollte. Die ewige Wahl zwischen Krieg und Frieden bleibt ein genetisch europäisches Dilemma. Es bleibt ein europäisches Thema, so lange es Europa gibt. Dass viele dies heute nicht mehr so sehen, führe ich auch auf eine nachlässige Geschichtsbetrachtung zurück. Der Blick in die Geschichte ist lästig für den einzelnen, wenn man sich einen schönen Zukunftsblick erhalten will. Ich halte den lockeren Umgang mit dem, was war, für eine der großen Verirrungen unserer Zeit.
Jean-Claude Juncker wird von seinen politischen Kollegen auf der Welt oft als Freund empfangen. Wie weit kann eine solche Freundschaft gehen?
Wenn in der Politik gesagt wird, jemand sei der Freund eines anderen, dann muss man das unter dem Mikroskop betrachten. Denn das gleiche Wort wird für unterschiedliche Beziehungsgeflechte verwendet. Ich habe neben oberflächlicheren Freundschaften, die ich eher in den Bereich der engeren Bekanntschaft einklassiere, mit einer Reihe ausländischer Kollegen auch intime Freundschaftsbande knüpfen können. Diese überdauern auch die Zeit nach dem Amt. Zum Beispiel mit Helmut Kohl, Jacques Chirac oder dem ehemaligen portugiesischen Premier Antonio Guterres, dem jetzigen Weltflüchtlingskommissar. Ich könnte viele nennen. Ich bin durch die Politik reicher geworden beim Ansammeln von Dingen, die ich von Menschen gelernt habe, die auf einmal sehr wertvoll für mich geworden sind.
Sie möchten nach den Wahlen 2009 wieder Premierminister werden – bis 2014 wären Sie dann länger im Amt als Bundeskanzler Helmut Kohl…
Ich mache durchaus einen feinen Unterschied zwischen einer sechzehnjährigen Präsenz an der Spitze der deutschen Regierung und einer längeren Anwesenheit an der Spitze der luxemburgischen. Die Belastungen und Verantwortlichkeiten sind doch andere: ich halte meine für groß, die von anderen für zu groß.
In den Meinungsumfragen erreichen Sie Spitzenwerte, Sie sind Karlspreisträger und werden in das Institut de France aufgenommen: Wie schafft man es bei solchen Ehren, die Fähigkeit zur Selbstkritik zu bewahren?
Die Luxemburger Presse hilft mir ja sehr dabei. Ich habe heute (Anm. der Red.: 23. Dezember) im “Luxemburger Wort” gelesen, ich hätte einen herben Verlust von vier Punkten in meinem Popularitätsgrad hinzunehmen. Vor der Tripartite soll ich 88 Prozent erreicht haben, nach der Tripartite 84 Prozent. Dabei hat die Tripartite den Menschen einiges zugemutet, und es war allein der Staatsminister, der den Leuten dies erklären musste. Dies alles zeigt mir, dass man den Meinungsumfragen nicht trauen kann, denn ich bin überzeugt, dass ich keine 84 Prozent Zustimmung im Land habe – ich glaube das einfach nicht!
“Ombudsmann leistet gute Arbeit”
Sie bedauern oft, dass Sie sich um die Probleme der kleinen Leute nicht so kümmern können wie Sie das eigentlich wollten. Was hindert Sie daran?
Die Zeit und die Tatsache, dass ich in meinem direkten Umfeld nicht genügend Leute beschäftigen kann, die den Dingen nachgehen können, die mir zugetragen werden. Diese Hilfestellung nicht geben zu können, stimmt mich traurig. Aber es gibt so unendlich viel zu tun. Das allein erklärt schon, warum ich mit großem Durchsetzungswillen auf den Ombudsmann gedrängt habe. Wir brauchen eine Stelle, wo es jemanden gibt, der eine scheinbar hoffnungs- und ausweglose Situation ins Gegenteil umkehren kann.
Haben Sie ständigen Kontakt zu Marc Fischbach?
Herr Fischbach ist mir nicht Rechenschaft schuldig, und ich ihm auch nicht… na ja, ein bisschen schon. Ja, ich unterhalte mich regelmäßig mit ihm! Ich finde, dass er eine gute Arbeit leistet, auch wenn er die Politik manchmal verärgert…
… einschließlich der Regierungsmitglieder…
… ja, ja, er ist mir nicht immer freundlich gesinnt in seinen Briefen, aber ich will ihn nicht missen!
Kulturjahr 2007, ein wichtiges Ereignis auch für Sie. Haben Sie vor, verschiedene Veranstaltungen zu besuchen?
Für mich ist das Kulturjahr atmosphärisch wichtig, weil sich das Ambiente in der Großregion, aber vor allem in Luxemburg geändert hat. Ich finde es gut, wenn wir solche kollektiven Erlebnisse organisieren. Unsere Generationen können ja nicht jenen, die nach uns kommen, eine Luxemburger Welt hinterlassen, in der wir nichts anderes getan haben als viele Banken, viel Geld ins Land zu bringen oder die größten Tankstellen, an denen das Benzin billiger verkauft wird. Es gibt ja auch noch immaterielle Werte, die für die Kohäsion eines Volkes vielleicht wesentlich wichtiger sind als nur die Überlegungen rund um das Geld.
Herr Staatsminister, wie halten Sie den permanenten Stress aus, wie halten Sie sich fit?
Jean-Claude Juncker: (überlegt) Ich habe viel Stress, es wäre ja lächerlich, dies in Abrede zu stellen. Aber ich halte alles gut aus, weil ich mein Leben mit dem anderer Leute vergleiche. Mein Vater war einige Zeit Arbeiter im Hüttenwerk, er hat während meiner Primärschulzeit auf drei Schichten gearbeitet und alle paar Wochen die lange Schicht geschoben, 16 Stunden am Stück. Alle meine Nachbarn haben das getan. Wenn man 20, 30, 40 Jahre lang den Körper zwingt, zu arbeiten, wenn er schlafen will, wenn man schlafen muss, obwohl man lieber wach bleiben möchte – dieser Stress ist doch unendlich größer!
Was ich sage, ist nicht nobel: Um aufzuhören, mich zu beklagen, führe ich mir manchmal das Unglück anderer Menschen vor Augen. Es gibt so viel Unglück, dass es eigentlich keine Ursache geben kann, sich über zu viel Arbeit zu beklagen. Man soll froh sein, seine Arbeit verrichten zu können. Insofern finde ich, dass ich bei all dem Ärger, den ich haben kann, vom Leben mehr verwöhnt wurde, als ich es mir vorzustellen wagte.
Mit welchem Gefühl begegnen Sie dem neuen Jahr?
Bei Jahreswechseln oder bei meinen Geburtstagen habe ich niemals spezielle Gefühle. Ich bin total unfähig, meiner Person programmatische Vorgaben zu geben für die zwölf Monate, die da kommen. Außer meinem rituellen Wunsch, etwas mehr Ruhe zu bekommen als im vorangegangenen Jahr… Aber ich bin der einzige, der immer wieder auf diesen Wunsch hereinfällt!
Herr Staatsminister, wir bedanken uns für dieses Gespräch.
Quelle: Télécran, 28. Dezember 2006, Roland Arens, Claude François