“Volksparteien sind dem Gemeinwohl verpflichtet.” Ein Gastbeitrag von Jean-Claude Juncker im Rheinischen Merkur
Es war zu erwarten: Die sich stark reduzierende Zustimmung der deutschen Bundesbürger zur Großen Koalition und zu den beiden sie tragenden Volksparteien CDU/CSU und SPD hat eine Fundamentaldebatte über die Volksparteien selbst, ihren Sinn, ihren Zweck und ihr Wesen losgetreten.
Diese Debatte tobt aber nicht nur in Deutschland. Man begegnet ihr auch in Österreich, in Belgien, in den Niederlanden, ja fast überall in Europa.
Für den schwindenden Einfluss der Volksparteien versucht man diese selbst verantwortlich zu machen. Wohlgemerkt: Die ehemals großen Volksparteien tragen meiner Meinung nach an ihrer Schwindsucht selbstverständlich ein gerüttelt Maß an Schuld. Aber so zu tun, als hätte die nicht zu leugnende Attraktivitätskrise allein mit ihnen selbst, nicht aber auch mit der Gesellschaft zu tun, in der sie sich bewegen, ist ein fataler Irrtum.
Dieser Irrtum ist verständlich, da es immer lohnender ist, Parteien und Politik zu kritisieren als die Zustände in der Gesellschaft. Aber ein Irrtum ist es doch.
Den Volksparteien wird heutzutage vorgeworfen, ihre Programmatik sei zu weich, zu matschig und zu breitgefächert geworden. Ihr Wunsch, möglichst breite Wählerschichten mit ihrem Programmangebot zu erreichen, habe sie in programmatische Selbstverstümmelung getrieben, die ihre Identität geschmälert und ihre Erkennbarkeit zerstört habe.
Man vergisst bei dieser Pauschalverurteilung und Aburteilung allzu schnell, dass eine Partei nur dann Volkspartei sein kann, wenn sie sehr bewusst und auf Dauer für alle Volksschichten wählbar ist. Eine Partei, will sie Volkspartei sein, muss ein allgemeines Gefühl des Aufgehobenseins vermitteln: Bauern und Angestellte, Freiberufler und Arbeiter, öffentlicher Dienst und Bürgertum, Mittelstand und Industrie brauchen die Volksparteien als Adressaten ihrer sektoriellen Ansprüche und ihrer kollektiven Erwartungen.
Die einzelnen Volksgruppen müssen davon ausgehen können, prinzipiell in den Volksparteien Gehör finden zu können. Alle müssen sie aber auch bereit sein, im Detail nicht recht zu bekommen. Volksparteien würden sicher bald ihre Bindungskraft verlieren, wenn sie zu einem Serviceclub für korporatistische Begehrlichkeiten verkämen.
Volksparteien sind dem Gemeinwohl verpflichtet. Sie suchen den Interessenausgleich, weil sie den Crash zwischen Gruppenegoismen und Partikularstarrsinn für gesellschaftszersetzend halten. Und das zu Recht.
Klientelismus kann niemals Sache der Volksparteien sein. Liberale dürfen das, Grüne können das, Neosozialisten machen das. Volksparteien können das auch. Manchmal machen sie es auch. Aber sie dürfen es nicht, denn wenn sie es tun, hören sie auf, große Parteien, Volksparteien eben, zu sein.
Obwohl die Volksparteien wissen, dass sie dies nicht tun dürfen, ist die Versuchung groß, dennoch rasch die spezifischen Klientelinteressen und Partikularbefindlichkeiten bedienen zu wollen. Warum? Ganz einfach deshalb: Weil viele Menschen nicht mehr das Allgemeinwohl, nicht mehr den übergeordneten Interessenausgleich im Sinn haben. Die Zahl derer wächst, die sich ins Private zurückziehen, denen die Harmonie in der Gesellschaft nichts bedeutet und die den ureigenen Wünschen Gesetzeskraft verleihen möchten.
Aus diesem Grund ist die Krise der Volksparteien auch eine Krise der Gesellschaft: Volksparteien sind ihrem Wesen nach auf organisierte Rücksichtnahme ausgerichtet. Eine wachsende Zahl von Wählern nimmt jedoch nur noch auf ihre eigenen Anliegen Rücksicht.
Letzteres wird sich eines Tages wieder ändern. Doch zurzeit ist es so. Dass es mehrheitlich noch nicht so ist, zeigt die Tatsache, dass die Volksparteien in unserem Teil Europas immer noch mehr als die Hälfte der Wählerschaft an sich binden, rechnet man die Stimmen für sie zusammen. Damit das so bleibt, sollte man sie – wenn schon nicht schonen, so doch wenigstens achten und respektieren.
Die Volksparteien werden als Abwehrkraft gegen den Gruppenegoismus weiterhin gebraucht. Setzen sich Gruppenegoismen durch und werden Partikularinteressen zum politischen Programm der Parteien, dann werden die Parlamente sich nur noch aus Randgruppen zusammensetzen. Randgruppen werden immer nur Randinteressen formulieren können. Für die Formulierung des Volkswillens sind die Volksparteien zuständig.
Jean-Claude Juncker, Rheinischer Merkur, 19. Oktober 2006