Premierminister Jean-Claude Juncker im österreichischen Nachrichtenmagazin Profil: “Niemandem ist gedient, wenn Sozialdumping und teilweise auch Steuerdumping durch die Hintertür in Europa Einzug halten”
Lissabonstrategie, Energieversorgung, das Soziale in Europa und EU-Budget sind nur einige Punkte die Premier Jean-Claude Juncker im Gespräch mit dem österreichischen Nachrichtenmagazin Profil diskutierte.
Profil: “Welchen Nutzen hat einer der 30 Millionen arbeitsuchenden EU-Bürger vom Frühlingsgipfel zu Jobs und Wachstum?”
Juncker: “Die EU hat drei Grundelemente für den neuen Lissabon-Prozess vereinbart: wirtschaftliche Reform, sozialen Zusammenhalt und nachhaltige Umweltpolitik. Natürlich kann die Politik keine bestimmte Anzahl neuer Arbeitsplätze versprechen. Aber wir können mit mehr Elan die von uns gesetzten Ziele verwirklichen, etwa indem wir Europa durch mehr Ausgaben für Forschung wettbewerbsfähiger machen oder die Energieversorgung sicherstellen. Wenn sich die Volkswirtschaften in den 25 Mitgliedsstaaten in diese Richtung entwickeln, dann werden wir die Nase bald wieder vom haben. Und davon werden alle EU-Bürger profitieren.”
Profil: “Im Vorfeld des EU-Gipfels haben sich Großbritannien, Italien und die Niederlande über wachsenden Protektionismus in der EU beschwert. Ist diese Sorge berechtigt?”
Gegen den Aufbau von protektionistischen Mauern
Juncker: “Ich bin dagegen, dass man alle aktuellen Probleme der Union in einen Topf wirft. So will ich etwa den Zusammenschluss französischer Energiekonzerne nicht kommentieren. Dieser Fall ist auch ganz anders gelagert als die geplante feindliche Übernahme des Luxemburger Stahlkonzerns Arcelor durch den indisch-britischen Stahlerzeuger Mittal. Da hat mich geärgert, dass mit den Betroffenen nicht geredet wurde und man nicht weiß, wohin die Reise geht. Ich bin gegen den Aufbau von protektionistischen Mauern, aber ich wehre mich auch dagegen, dass unter dem Deckmantel der Globalisierung alles erlaubt sein soll. Die Politik hat nicht zuletzt die Aufgabe, Arbeitnehmerinteressen zu vertreten.”
Profil: “Sehen Sie die Gefahr einer Renationalisierung in der EU?”
Juncker: “Ich sehe diese Gefahr, aber ich erkenne den zugehörigen Trend noch nicht. Ich sehe aber sehr wohl den Trend, dass Machtlogik und Shareholder Values die einzigen wirtschaftlichen Antriebskräfte in Europa werden sollen. Das lehne ich entschieden ab.”
Profil: “Deshalb vergrößert sich auch die Distanz zwischen der EU und den Bürgern.”
Juncker: “Man beklagt, dass die Kluft zwischen der EU-Politik und dem Empfinden der Bürger immer größer wird. Wenn sich die Menschen aber zu ihrer Befindlichkeit zu Wort melden, etwa dazu, dass sie gern ihren Arbeitsplatz behalten würden, dann teilt die EU unter dem Deckmantel der Zwänge der Globalisierung mit: Nur die Märkte und Aktionäre würden entscheiden, ansonsten habe der Einzelne den Mund zu halten. So kann es nicht weitergehen.”
Profil: “Wie kann man also das Vertrauen der Bürger zurückgewinnen?”
Juncker: “Man stellt es keinesfalls dadurch wieder her, indem man dauernd von Flexibilisierung, Dereglementierung, Privatisierung und Präkarisierung redet. Damit können die Menschen nichts anfangen. Und so wird der Arger der Bürger über die EU nur noch größer.”
Profil: “Was halten Sie von den Protesten in Frankreich gegen die Lockerung der Kündigungsvorschriften für jüngere Arbeitnehmer?”
Juncker: “Ich kommentiere nicht gern die Politik anderer EU-Staaten. Aber dass die französische Regierung angesichts einer Jugendarbeitslosigkeit von bis zu 40 Prozent in den Vorstädten etwas unternehmen muss, steht für mich außer Frage. Ich erkenne nicht nur in Frankreich eine Gefahr einer Präkarisierung (Anm.: Anstieg prekärer Arbeitsverhältnisse), wenn man diese Lockerungsübungen im Arbeitsrecht nicht mit Mindestgarantien verknüpft.”
Dienstleistungsrichtlinie: Kein Sozialdumping
Profil: “Ist der vom Europäischen Parlament gefundene Kompromiss über die umstrittene Dienstleistungsrichtlinie ausreichend?”
Juncker: “Ich halte die erreichte Einigung bei der ersten Lesung im Parlament für einen wertvollen Beitrag zur Lösung des Problems. Ich bin für die Öffnung der Dienstleistungsmärkte, aber resolut gegen das bewusste Inkaufnehmen des Sozialdumpings.”
Profil: “Die Regierungen der neuen Mitgliedsstaaten klagen dafür, dass die Liberalisierung nicht weit genug gehe.”
Juncker: “Wir brauchen die Liberalisierung, weil davon auch die Schaffung vieler neuer Jobs abhängt. Aber niemandem ist gedient, wenn Sozialdumping und teilweise auch Steuerdumping durch die Hintertür in Europa Einzug halten. Kurzfristig mögen da Vorteile winken. Aber mittelfristig wird die Politik der EU auf noch größere Ablehnung der Arbeitnehmer stoßen. Dies kann niemand wirklich wollen.”
Profil: “Sollte man die Untemehmensbesteuerung in der EU angleichen, um Steuerdumping zu vermeiden?”
Juncker: “Ich bin für Steuerwettbewerb, aber er darf nicht unfair sein. Daher halte ich eine gewisse Mindestharmonisierung der Bemessungsgrundlage bei den Untemehmenssteuem für einen verfolgenswerten Ansatz.”
Profil: “Der endlose Streit um das künftige EU-Budget geht in die nächste Runde. Nun fordert das EU-Parlament Nachbesserungen in der Höhe von zwölf Milliarden Euro.”
Juncker: “Im Juni 2005 hatten wir unter Luxemburger Vorsitz ein Gesamtvolumen von 1,06 Prozent des gemeinschaftlichen Bruttonarionalprodukts vorgeschlagen. Das war einigen EU-Ländern zu viel. Im Dezember hat man sich dann auf 1,045 Prozent des BNP geeinigt. Aber ich habe damals gesagt, dass man sich in die Nähe unseres Vorschlags zurückbewegen muss, wenn man die Zustimmung des EU-Parlaments gewinnen will. Genau dort stehen wir jetzt. Alle im Rat sollten wissen, dass man das Angebot nach oben anpassen muss. Das EU-Parlament sollte wieder einsehen, dass es mit seinen Forderungen nicht zu weit gehen kann. Mich würde es deshalb nicht wundem, wenn man sich beim Luxemburger Vorschlag wieder treffen würde.”
Profil: “Also wurde wertvolle Zeit verloren?”
Juncker: “Allerdings.”
Agrarbereich: Massive Reformen
Profil: “Die Sozialdemokraten ‘kritisieren die hohen Ausgaben für die gemeinsame Agrarpolitik. SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer will mehr Mittel für innovative Ausgaben umschichten.
Juncker: “Als ich 1984 erstmals über den EU-Haushalt mitentscheiden durfte, betrug der Agraranteil am Budget über 60 Prozent. Inzwischen sind wir bei unter 40 Prozent. Am Ende der nächsten Finanzperiode liegen wir bei 34 Prozent. Wer also so tut, als habe es im Agrarbereich nicht massive Reformen gegeben, kennt sich nicht aus. Die Agrarpolitik ist auch der einzige Bereich, der voll aus dem EU-Budget finanziert wird.”
Profil: “Bei der Erweiterung treten nun einige EU-Länder, allen voran Frankreich, wie auch das EU-Parlament auf die Bremse.”
Juncker: “Das Parlament bremst nicht, es stellt die richtigen Fragen. Aber man sollte die Welt nicht täglich neu erfinden. Man kann jetzt nicht den kroatischen Freunden sagen, dass es für sie derzeit keinen Platz in der EU gibt. Natürlich muss man die Aufnahmefähigkeit der EU immer wieder prüfen. Aber Kroatien gehört zur europäischen Familie. Und die Staaten des Westbalkans brauchen die europäische Perspektive, um sich politisch und wirtschaftlich weiterzuentwickeln.”
Profil: “Und wie sieht es mit der Türkei aus?”
Juncker: “Die Verhandlungen finden statt, und sie sind ergebnisoffen.”
Profil: “Wie bewerten Sie den österreichischen Ratsvorsitz bisher? Aus Finnland gab es kürzlich Kritik dahingehend zu hören, Österreich setze zu sehr auf harmonische Tagungen, weniger auf inhaltliche Fortschritte.”
Juncker: “Ich bin mit dem österreichischen EU-Vorsitz bisher sehr zufrieden. Wolfgang Schüssel präsidiert sehr umsichtig. Er kann zuhören und lässt die verschiedenen Meinungen in die Entscheidungsmasse einfließen.”
Profil: “Die Ergebnisse des Frühlingsgipfels sind nicht unbedingt spektakulär.”
Juncker: “Das ist immer so bei Frühlingsgipfeln. ‘Vor einem Jahr haben wir Luxemburger den Lissabon-Prozess reformiert und auch den Stabilitätspakt erneuert. Ohne diese Zusatzaufgaben hätten wir auch nicht so viele Ergebnisse vorweisen können.”
Profil: “Wird Österreich die EU-Verfassung wiederbeleben können?”
Juncker: “Wolfgang Schüssel wird klug genug sein, im Juni vorläufige Schlussfolgerungen aus der Verfassungsdebatte zu ziehen und diese Debatte sich dann weiterentwickeln lassen. Voreilige Festlegungen wären nicht hilfreich.
Quelle: Profil Österreich, 2. April 2006