Ein Umdenken fordert Minister François Biltgen im Wort-Interview. Anstatt Illusionen zu pflegen, gilt es mit konkreten Massnahmen,die Beschäftigungssuchenden auf die Arbeitswelt vorzubereiten
Die Lage auf dem luxemburgischen Arbeitsmarkt spitzt sich zu. Für Arbeitsminister Biltgen sind die Ursachen eher struktureller Natur. Auch wenn er keine Patentrezepte hat, will er alle Akteure künftig in die Pflicht nehmen. Die Pisten zeigt er im Wort-Interview auf.
Wort: “Herr Minister, seit Monaten weist die Statistik steigende Arbeitslosenzahlen auf. Sind die Gründe eher konjunktureller oder struktureller Natur?”
François Biltgen: “Die Ursachen sind mittlerweile eindeutig struktureller Natur sind. Allerdings wird die Lage im Moment durch die Konjunktur verschärft. Ich habe übrigens schon vor Jahren, als die Arbeitslosenquote noch sehr niedrig war, darauf hingewiesen, dass unser Hauptproblem strukturell bedingt ist. Allein die Tatsache, dass die Arbeitslosigkeit weiter steigt, obwohl die Konjunktur jetzt wieder anzieht, beweist, dass die Ursachen hauptsächlich struktureller Art sind. So werden immer mehr Arbeitslose mit sehr geringer Schulbildung registriert: Im Februar belief sich die Zahl auf 5 271, was 52,2 Prozent ausmacht. Letztes Beispiel: Die Zahl der Langzeitarbeitslosen, darunter vor allem die der Arbeitnehmer mit verminderter Leistungsfähigkeit, steigt unverhältnismäßig stark.”
Arbeitsmarkt: fehlende Übereinstimmung von Angebot und Nachfrage
Wort: “Nach wie vor werden in Luxemburg sehr viele neue Stellen geschaffen. Wieso gelingt es nicht, sie mit Arbeitsuchenden aus Luxemburg zu besetzen?”
François Biltgen: “Man muss wissen, dass in der Großregion mehr als 600 000 Arbeitsuchende registriert sind. Diejenigen, die auf den Luxemburger Arbeitsmarkt drängen, sind in der Regel jung, dynamisch und gut ausgebildet. Auch sind sie wesentlich mobiler und oft sie sind eher bereit, eine Arbeit anzunehmen, die nicht ihren Fähigkeiten entspricht. Gerade die “schwachen” Einheimischen, haben natürlich das Nachsehen. Ich kann natürlich verstehen, dass die Betriebe aus Wettbewerbsgründen lieber auf einen gut ausgebildeten, flexiblen Arbeitnehmer aus der Großregion zurückgreifen als auf einen unqualifizierten Arbeiter aus Luxemburg. Auf unserem Arbeitsmarkt stimmen Angebot und Nachfrage leider nicht überein.
Gleichzeitig will ich aber unterstreichen, dass unsere Wirtschaft ohne die Grenzgänger nicht überlebensfähig wäre. Hinzu kommt, dass gerade in den Bereichen, wie etwa in Industriebetrieben, wo bereits heute viele Grenzgänger beschäftigt sind, in Zukunft – allein durch die Praktik des “Buschtelefons” – noch mehr Ausländer unterkommen werden. Auch der Staat und die Gemeinden ziehen Arbeitskräfte ab, deren Posten anschließend von Grenzgängern besetzt werden. Diese Spirale macht mir Sorgen.”
Wort: “Was wollen Sie nun konkret gegen die Arbeitslosigkeit tun?”
François Biltgen: “Erstens müssen wir umdenken: statt “job security” wird es in Zukunft “employment security” heißen müssen. Dann muss sich die Arbeit wieder lohnen nach dem Motto “make work pay” und drittens müssen wir dafür sorgen, dass die offenen Stellen auch zu den Arbeitsuchenden gelangen und umgekehrt.
Beim dritten Punkt sind der Arbeitsminister und die Arbeitsmarktverwaltung Adem gefordert. Aber nicht nur sie, auch die Arbeitsuchenden und die Betriebe müssen sich bewegen. Bereits heute geht die Adem verstärkt in diese Richtung. Längst beschränkt sich ihre Tätigkeit nicht mehr auf die einfache Stellenvermittlung mittels “assignations”, die wirklich nicht immer die gewünschten Erfolge bringt. Vielversprechender sind die so genannten “ateliers de formation”. Hier können die Profile nämlich bereits im Vorfeld genau abgeklärt werden, so dass nur noch solche Arbeitsuchende in die Betriebe geschickt werden, die die Unternehmen wirklich brauchen.
Wie gesagt, es sind aber auch die Betriebe gefordert, den einheimischen Arbeitsuchenden eine Chance zu geben. Der so genannte “stage d’insertion” ermöglicht beispielsweise das gegenseitige Kennenlernen. Während eines Jahres zahlt der Betrieb lediglich 40 Prozent des Mindestlohns. Gleichzeitig kann der Arbeitgeber die Jugendlichen für die spezifischen Bedingungen in seinem Unternehmen schulen. Die Vorteile liegen also auf der Hand: Die Betriebe haben finanzielle Vorteile und sind nicht an den Kündigungsschutz gebunden, da es sich nicht um einen normalen Arbeitsvertrag handelt. Bilanz: 75 Prozent der Arbeitsuchenden, die von einem solchen Praktikum profitieren, bleiben anschließend in einem Betrieb. Allerdings sind die Betriebe auf diesem Gebiet noch sehr zurückhaltend, denn es werden im Schnitt jährlich nur 200 Praktika angeboten. Darüber bin ich sehr enttäuscht. Doch wir werden demnächst mit dem Dachverband der Arbeitgeber UEL eine Kampagne in den Betrieben starten.”
Die Betriebe müssen also verstärkt mit der Adem zusammenarbeiten. Auch die Wirtschaft und die Finanzinstanzen müssen deshalb stärkeren Druck ausüben. Der Arbeitsminister allein kann hier nicht alles bewirken.
Dann kommt hinzu, dass bedingt durch die vielen Grenzgänger die meisten Betriebe eine sehr junge Personalstruktur haben. Ältere Arbeitnehmer haben demnach nur noch bedingte Chancen. Es wurden bereits Anreize geschaffen, damit die Betriebe wieder ältere Mitarbeiter über 50 beschäftigen. Doch auch dieses Angebot wird von den Betrieben nur ungenügend genutzt. Zur Zeit ist ein Gesetzesprojekt auf dem Instanzenweg, das vorsieht, dass es diese Beihilfen bereits für Arbeitsuchende ab 45 geben soll.”
“Mentalitätswandel herbeiführen”
Wort: “Und was verlangen Sie von den Arbeitsuchenden?”
François Biltgen: “Die Arbeitsuchenden müssen künftig bereit sein, auch Jobs anzunehmen, die nicht 100-prozentig ihren Vorstellungen entsprechen. Sie müssen flexibler werden. Heute sind immer weniger Luxemburger bereit, eine Schichtarbeit anzunehmen. Auch diese Mentalität führt dazu, dass die Grenzgänger immer stärker auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt Fuß fassen.
Stattdessen streben immer mehr Luxemburger die lukrativen Jobs beim Staat oder den Gemeinden an. Hier müssen wir einen Mentalitätswechsel herbeiführen. Unsere Beschäftigungspolitik darf den Menschen keine Illusionen machen. Zu viele Arbeitsuchende werden derzeit im Rahmen einer Beschäftigungsmaßnahme beim Staat oder bei den Gemeinden “geparkt”. Das führt in eine Sackgasse, weil am Ende einer solchen Maßnahme meist keine Arbeitsstelle wartet. Vor allem die Jugendlichen müssen in Zukunft verstärkt im Privatsektor untergebracht werden. Außerdem kann ich mich nicht damit abfinden, dass verschiedene staatliche Stellen und Gemeinden die Maßnahme nur benutzen, um mit billigen Arbeitskräften einem etwaigen Postenmangel zu begegnen.”
Wort: “Oft heißt es, dass viele der Arbeitslosen nicht arbeiten wollen …”
François Biltgen: “Ich will die Situation nicht schönreden. Es gibt auch etliche, die sich drücken wollen. Jährlich werden mehrere hundert Dossiers bei der Adem geschlossen, weil die Kandidaten keine Arbeit annehmen wollen. Letztes Jahr wurde in 232 Fällen die Arbeitslosenentschädigung wegen Arbeitsverweigerung ganz gestrichen. Und ich bin der Meinung, dass wir hier hart durchgreifen und die Zumutbarkeitsklausel verstärken müssen, damit der Arbeitsuchende auch eigene Anstrengungen unternimmt. Gleichzeitig will ich aber betonen, dass nicht alle Arbeitsuchenden, die strukturelle Defizite aufweisen, arbeitsscheu sind. Im Gegenteil. Eine generelle Kulpabilisierung der Arbeitsuchenden ist fehl am Platz. “
Wort: “Thema Adem. Das Arbeitsamt wird oft kritisiert, ist die Adem so schlecht wie ihr Ruf?”
François Biltgen: “Dass die Adem effizienter arbeiten könnte, dessen bin ich mir bewusst. Deshalb soll ja auch ein weiteres Audit durchgeführt werden. Auch bin ich der Meinung, dass die Adem über größere Mittel verfügen sollte. Vor allem in die Informatik muss weiter investiert werden. Da die Arbeitslosigkeit aber hauptsächlich strukturell bedingt ist, könnte auch ein optimal funktionierendes Arbeitsamt nicht alle Probleme lösen.”
“Arbeit ist mehr als Beschäftigung”
Wort: “Auch die Beschäftigungsinitiativen stoßen nicht überall auf Gegenliebe, sie werden oft als zu teuer und zu ineffizient kritisiert.”
François Biltgen: “Wir werden die Beschäftigungsinitiativen auch in Zukunft brauchen. Wir haben nämlich eine Reihe von Erwerbslosen, die aus diversen Gründen auf dem ersten Arbeitsmarkt keine Chance haben. Allerdings muss dieses Angebot auf jene Menschen beschränkt werden, die wirklich in der freien Wirtschaft außen vor bleiben würden. Wir brauchen den zweiten Arbeitsmarkt, aber ich will keine Billigjobs, sondern menschenwürdige Arbeit. Arbeit ist mehr als Beschäftigung.
Was den Vorwurf des unlauteren Wettbewerbs anbelangt, der oft von Arbeitgeberseite erhoben wird, so bin ich bereit, den Beschäftigungsinitiativen einen neuen Rahmen zu geben. Wer meint, die Beschäftigungsinitiativen seien zu teuer, muss wissen, dass es viel Geld kostet, wenn man sich intensiv um benachteiligte Menschen kümmern will. Die Gesetzesreform sieht vor, dass die Beschäftigungsinitiativen in Zukunft im Verhältnis zu den betreuten Arbeitslosen finanziert werden.”
Wort: “Sie haben vorhin gesagt, Arbeit müsse sich wieder bezahlt machen. Wie meinen Sie das?”
François Biltgen: “Dies ist sicherlich eine Mentalitätsfrage, es ist aber auch eine Frage unserer Sozialleistungen. Ich bin nach wie vor strikt dagegen, dass das Arbeitslosengeld gekürzt wird, so wie dies einige Arbeitgeber verlangen, denn wer seinen Job verliert, darf zumindest nicht in ein soziales Loch fallen. Allerdings muss man einige Leistungen im Zusammenhang mit Schulungen und Arbeitsexperienzen überdenken, wenn diese nicht mit der Aussicht auf eine konkrete Arbeitsstelle verbunden sind. Egal was kommt, es muss einfach lukrativer sein, einer Arbeit nachzugehen, als sich auf die staatlichen Beihilfen zu verlassen. Hier ist allerdings nicht nur der Arbeitsminister gefordert.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang etwas zum Mindesteinkommen sagen. Trotz RMG haben wir nach wie vor Armutsprobleme. Allerdings muss auch das RMG eine subsidiare Rolle gegenüber der Beschäftigungspolitik einnehmen. Besondere Sorgen bereitet mir nämlich die gesellschaftliche Ausgrenzung. Kinder aus Familien, die sich zum Beispiel mit dem RMG über Wasser halten, haben ein weitaus größeres Risiko, dass sie später ebenfalls in die Arbeitslosigkeit abrutschen. Armutsbekämpfung allein reicht nicht, wir haben ein Problem der sozialen Kohäsion. Die beste Hilfe, um die Betroffenen wieder in die Gesellschaft einzugliedern, ist dabei der Arbeitsmarkt. Eine sinnvolle Arbeit ist besser als alle Sozialleistungen.”
Wort: “Wird es den Job fürs Leben in Zukunft noch geben?”
François Biltgen: “Angesichts der veränderten Wirtschaftsbedingungen wird der Job fürs Leben für immer mehr Menschen der Vergangenheit angehören. Ich habe vorhin von “employment security” statt “job security” gesprochen. Das heißt, wir müssen mobiler und flexibler sein. Das heißt aber auch, die Ausbildung wird noch wichtiger werden, sowohl die Schulbildung als auch die Weiterbildung. Wir müssen dafür sorgen, dass in Zukunft weniger Schüler die Schule ohne Diplom verlassen. In diesem Zusammenhang sei angemerkt, dass unsere heutigen Zensuren nicht aussagekräftig sind. Was wir brauchen, ist ein Nachweis der individuellen Fähigkeiten. Auch die Berufsorientierung muss verbessert werden, denn nach wie vor führen zu viele Bildungswege in eine Sackgasse. Zu viele Jugendliche drängen in kommerzielle Berufe, gebraucht werden aber Techniker und Handwerker.
Ich bleibe dabei, ein Diplom ist nicht alles, aber es erleichtert die Sache ungemein. Nur über den Bildungsweg können wir die Arbeitslosigkeit dauerhaft und wirksam bekämpfen.”
Quelle: Wort, 30. März 2006, Journalistin Dani Schumacher