“Wir sind nicht vorbereitet”

Im Gespräch mit der Wochenzeitung Woxx analysiert der CSV-Abgeordnete Marcel Glesener die Luxemburger Situation hinsichtlich der Freizügigkeit für Arbeitnehmer aus den neuen EU-Staaten

Woxx: “Am vergangenen Montag haben sich die Chamber-Kommissionen für EU-Angelegenheiten sowie für Arbeit zu einer gemeinsamen Sitzung getroffen. Thema war die Freizügigheit für ArbeitnehmerInnen aus den neuen EU-Beitrittsländern. Eine kontroverse Diskussion?”

Marcel Glesener: “Natürlich war die Debatte kontrovers. Die Regierung ist sich noch nicht sicher, ob sie drei weitere Jahre lang von der Übergangsregel profitieren will oder die volle Liberalisierung umsetzen soll. Als dritte Möglichkeit käme auch eine sektorielle Öffnung einzelner Bereiche des Arbeitsmarktes in Betracht.”

Die Schritte in den Nachbarländern beachten

Woxx: “Wie verlaufen die Konfliktlinien?”

Marcel Glesener: “Die sind ähnlich gelagert wie vor zwei Jahren. Doch nun hat sich auch noch die Situation auf dem Luxemburger Arbeitsmarkt dramatisch verschlechtert. Man muss den Menschen, die nach Luxemburg kommen, die Möglichkeit bieten, eine Arbeit zu bekommen. Zweitens stellt sich das Problem der Versorgung und Integration, sowie die Frage des Wohnraumes. Es kommen ja nicht nur Arbeiter, es kommen auch die Familien mit. Drittens hängt es davon ab, wie sich die Länder rund um Luxemburg verhalten, denn wir haben ja nicht bloß einen nationalen Arbeitsmarkt.”

Woxx: “Was bedeutet das konkret?”

Marcel Glesener: “Uns stellt sich das große Problem, ob wir uns jetzt gleich öffnen oder ob wir uns drei Jahre Zeit geben, um die Vorkehrungen treffen zu können, damit wir die Öffnung verkraften. Wir stellen fest, dass nach dem Beitritt der neuen Länder im Jahr 2004 über 850 Arbeitsgenehmigungen in Luxemburg ausgestellt wurden. Der Zustrom aus diesen Staaten ist also relativ stark. Jetzt können wir das steuern, denn wir haben eine flexible Gesetzgebung, die es im Bedarfsfall möglich macht, Arbeitnehmern eine Beschäftigung zu geben und die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes zu erfüllen.”

Woxx: “Freizügigkeit bedeutet aber, dass man keine Arbeitserlaubnis mehr benötigt.”

Marcel Glesener: “Momentan ist es jedoch wie gesagt so, dass sich die Situation am Luxemburger Arbeitsmarkt dramatisch verschlechtert hat. Unklar ist auch, wie sich die anderen Staaten der Grenzregion verhalten werden. Deutschland hat ja schon gesagt, dass man weiterhin von der Übergangsregelung Gebrauch machen wird. Frankreich hat Anfang dieser Woche die volle Liberalisierung angekündigt. Bestimmte sektorielle Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt werden jedoch auch dort beibehalten.”

Weiterer Denkprozess

Woxx: “Wird sich die Liberalisierung in Frankreich Ihrer Meinung nach auch auf den luxemburgischen Arbeitsmarkt auswirken?”

Marcel Glesener: “Wenn Frankreich sich öffnet, dann wird der Run französischer Grenzgänger nach Luxemburg stärker, was ich nicht beanstande. Aber wenn man sieht, in welcher Art und Weise sie von dem Stellenabbau bei Villeroy & Boch und TDK betroffen sind, dann muss man sich schon Gedanken machen. Deshalb bedarf es eines weiteren Denkprozesses, bevor wir in punkto Freizügigkeit zu einer definitiven Lösung kommen.”

Woxx: “Die Freizügigkeit ist jedoch das wichtigste Recht, das Individuen aus den Gemeinschaftsvorschriften herleiten können. Diese Frage kann doch nicht nur arbeitsmarktpolitisch beantwortet werden.”

Marcel Glesener: “Natürlich nicht. Aber die Übergangsbestimmungen sind ja nicht umsonst eingeführt worden. Man muss auch sehen, dass die alten Mitgliedsstaaten die Möglichkeit brauchen, den Menschen, die zum Beispiel nach Luxemburg drängen, eine Existenzmöglichkeit zu geben.”

Woxx: “Bis Ende April muss jedoch von allen Staaten eine diesbezügliche Entscheidung gefällt werden. Wie lautet Ihr persönliches Votum?”

Marcel Glesener: “Ich habe Bedenken und plädiere eher dafür, dass wir uns ein neues Integrationsgesetz geben, das auch in Arbeit ist. Die kommenden drei Jahre sollten wir nutzen, um die Bedingungen für einen nahtlosen Übergang zu schaffen.”

Woxx: “Damit unterscheidet sich Ihre Haltung von jener der Gewerkschaften, die sich gegen eine Verlängerung der Übergangsregelung ausgesprochen haben.”

Marcel Glesener: “Ich bin mir nicht sicher, ob die Gewerkschaften diese Position so bedingungslos vertreten. Ich persönlich würde anraten, nicht zu sagen, wir benutzen diese drei Jahre integral. Aber wir sollten die Bedingungen schaffen, damit wir die Freizügigkeit auch in Luxemburg verkraften können. “

Woxx: “In jenen Ländern, die keine Übergangsregelungen angewandt haben, hatte die Freizügigkeit laut EU-Kommission positive wirtschaftliche Auswirkungen. Hat Luxemburg eine große Chance vertan?”

Marcel Glesener: “Wir haben die Möglichkeit, flexibel zu reagieren. Wenn in einigen Wirtschaftbereichen ein Bedürfnis nach Arbeitskräften besteht, können wir dies ausgleichen und eine sektorielle Öffnung durchführen.”

Woxx: “Befürworter der Freizügigkeit argumentieren, dass die Regulierung des Arbeitsmarktes über Angebot und Nachfrage für den Erfolg entscheidend sei.”

Marcel Glesener: “Eine genaue Analyse des Luxemburger Arbeitsmarktes weist jedoch auf das Problem des Qualifikationsniveaus hin. Die Arbeitslosigkeit könnte also sehr wohl zunehmen. Aber das sind alles Prognosen. Deshalb würde ich lieber eine Denkpause einzulegen, damit die Entwicklung absehbar wird.”

Die öffentliche Meinungsbildung nicht überstrapazieren

Woxx: “Lediglich 1,5 Prozent aller EU-Bürger sind in anderen EU-Ländern beruflich tätig. Das Jahr 2006 wurde zum europäischen Jahr der Arbeitnehmermobilität erklärt, um dies zu ändern. Ist da die aktuelle Debatte nicht äußerst kontraproduktiv?”

Marcel Glesener: “Da haben Sie nicht unrecht. Aber man muss das immer im Kontext der nationalen Begebenheiten sehen. Die Freizügigkeit ist ein Ziel des europäischen Zusammenschlusses, doch die veränderte Situation in Luxemburg gibt mir zu denken. Minister Nicolas Schmit, der sich sehr für die EU-Verfassung einsetzt, hat sich für die Beibehaltung der Übergangsregelung ausgesprochen. Er lässt sich also nicht vom Gedanken der europäischen Integration leiten, sondern von der Frage, in welchen Sektoren Arbeitskräfte benötigt werden. Ist das der richtige Denkansatz? Die Frage des Arbeitsmarktes umfasst ja auch die Existenzbedingungen, die ein Land bieten kann. Ich sehe da keinen Widerspruch zu dem, was Nicolas Schmit gesagt hat. Es geht ja auch um die Integration. Man soll die öffentliche Meinungsbildung nicht überstrapazieren und den Menschen nicht zuviel zumuten. Das macht einen nicht zum schlechten Europäer. Natürlich bin ich für die Freizügigkeit. Ich bin auch für die Öffnung der Grenzen, aber das soll man bedächtig und in Etappen machen. Und man soll vor allem die Gelegenheit nützen, sich vorzubereiten. Das ist es, was ich vermisse: Wir haben uns seit zwei Jahren überhaupt nicht auf die zweite Phase nach 2006 vorbereitet. Es ist überhaupt nichts geschehen. Deswegen ist es wichtig, dass wir uns die erforderliche Infrastruktur geben, auch auf der Gründlage eines neuen Integrationsgesetzes, damit die Menschen in Luxemburg leben können.”

Woxx: “Warum ist in dieser Hinsicht bislang nichts passiert?”

Marcel Glesener: “Dazu will ich mich jetzt nicht äußern.”

Woxx: “Die CSV ist als Regierungspartei aber verantwortlich.”

Marcel Glesener: “Natürlich. Ich habe als Vorsitzender der Immigrationskommission dazu auch zweimal einen Bericht gemacht. Ich wurde von der Regierung beauftragt, eine Studie über die Auswirkungen der Immigration auf den Luxemburger Arbeitsmarkt zu machen. Leider Gottes wurde dem nicht Rechnung getragen. “

Woxx: “Sie haben also kein Gehör gefunden? Nicht zu hundert Prozent. Zu einem Teil schon. Nicht ausreichend? Vielleicht ungenügend, ja.”

Quelle: Woxx, 20. März 2006, Journalist Thorsten Fuchshuber