„Europa muss sozial sein, so wie Luxemburg es immer war und es auch morgen bleiben möchte“

Ein Gespräch mit Premierminister Jean-Claude Juncker zum EU-Referendum, publiziert in der Juli-Ausgabe des CGFP-Organs “Fonction Publique”

Fonction publique: Herr Staatsminister, die Abgeordnetenkammer hat entschieden, am Datum vom 10. Juli festzuhalten für die Volksbefragung über eine EU-Verfassung. Ist diese Entscheidung richtig, obwohl, nach Ihnen, noch Aufklärungsbedarf in der Bevölkerung besteht?

Jean-Claude Juncker: Der Aufklärungsbedarf ist groß. Es werden die unmöglichsten Unwahrheiten und Gerüchte über Europa herumgereicht. Tausend Versammlungen würden nicht ausreichen, um die elementarsten Wahrheiten wieder herzustellen.

Polnische Arbeiter werden in Luxemburg nicht zu Billiglöhnen arbeiten können, da in Luxemburg der gesetzliche Mindestlohn und Tariflöhne für alle, auch für ost- und mitteleuropäische Arbeitnehmer, gelten. Estnische Betriebe können nur dann ihr Lager in Luxemburg aufschlagen, wenn sie dieselben Bedingungen erfüllen wie die luxemburgischen Betriebe auch. Rumänische Lehramtsanwärter können ihre luxemburgischen Kollegen nicht aus den Schulen verdrängen, da wir selbst zuständig bleiben für die Zulassungsbestimmungen. Die Unmenge an falschen Behauptungen und die adäquaten Antworten darauf erzwingen eine Fortsetzung der Europa-Debatte über den vom Parlament in freier Entscheidung auf den 10. Juli festgelegten Referendumstermin hinaus.

Fonction publique: Warum sollen die Luxemburger überhaupt über den EU-Verfassungsvertrag befinden, der selbst nach dem Nein der Franzosen und Niederländer nicht neu verhandlungsfähig sein soll?

Jean-Claude Juncker: 12 von 25 Mitgliedstaaten haben den Vertrag ratifiziert, zwei haben ihn abgelehnt. Wir haben als eigenständige Nation das uneingeschränkte Recht, in einem schwierigen Moment der europäischen Entwicklung unsere Meinung zum weiteren Vorgehen in Europa zum Ausdruck zu bringen. Unsere Meinung zählt nicht weniger als die der Franzosen oder der Niederländer, nur weil es weniger Luxemburger als Franzosen oder Niederländer gibt.

Wenn es Am Ende des Ratifizierungsprozesses maximal fünf Staaten gibt, die nicht ratifiziert haben, werden diese Staaten sich noch einmal festlegen müssen. Bleiben sie bei ihrem “Nein”, dann kann es unter Umständen zu Neuverhandlungen kommen, da die aktuellen Verträge nicht zum Europa von morgen passen.

Fonction publique: Was würden denn Neuverhandlungen für Luxemburg bedeuten?

Jean-Claude Juncker: Käme es zu Neuverhandlungen, dann würde ein “Ja” der Luxemburger am 10. Juli es der dann neu verhandelnden Regierung unmöglich machen, das für Luxemburg im vorliegenden Verfassungsvertrag Erreichte zur Disposition zu stellen. Es gibt nämlich luxemburgische Verhandlungserfolge, die man nicht leichtfertig aufs Spiel setzen sollte.

Der Verfassungsvertrag schreibt Einstimmigkeit in Steuerfragen vor. Grosse Teile der französischen Nein-Sager beispielsweise würden bei Neuverhandlungen Mehrheitsentscheidungen in Steuerfragen durchsetzen wollen und möchten per Mehrheitsbeschluss Luxemburg gegen seinen Willen eine weitaus höhere Mehrwertssteuer aufzwingen. Ich bin für Einstimmigkeit, weil sie uns selbständiges Handeln erlaubt.

Der Verfassungsvertrag legt fest, dass wir in Pensions- und Rentenfragen selbst entscheiden. Viele aber in Europa plädieren auch hier für Mehrheitsentscheidungen: Ich bin für Einstimmigkeit, weil wir Herr über unser Renten- und Pensionswesen bleiben müssen.

Der Verfassungsvertrag schreibt eine “freie und unverfälschte Konkurrenz” vor. Viele auf der französischen Linken möchten diese Klausel sprengen, ich nicht. Weil sie uns gegen die Subventionspower der großen Staaten schützt, die die Konkurrenzbetriebe unserer Betriebe mit Milliardenbeträgen unterstützen und so unsere Betriebe kaputt machen könnten, weil wir als öffentliche Hand nicht über eine den Franzosen oder den Deutschen vergleichbare öffentliche Subventionskraft verfügen. Diese von den Verfassungsgegnern als wirtschaftsliberale Gefahr verschriene Konkurrenzklausel schützt uns und unsere Industrie.

Der neue Vertrag unterstellt alle EU-Initiativen dem Gebot der Sozialverträglichkeit. Skandinavier, vor allem aber Briten, liefen Sturm gegen ihre Einschreibung ins Vertragswerk. Wir aber meinen: Europa muss sozial sein, so wie Luxemburg es immer war und es auch morgen bleiben möchte. Wir müssen am 10. Juli “Ja” zu diesen für uns günstigen Errungenschaften sagen.

Fonction publique: Befürchten Sie denn nicht, wie viele das tun, dass der neue Verfassungsvertrag die europäische Union ermuntern wird, auf immer zahlreicheren Gebieten tätig zu werden und ihren Einfluss über das gebührende Maß hinaus auf die Gestaltungsfreiheit der Mitgliedstaaten auszuüben?

Jean-Claude Juncker: Der Verfassungsvertrag grenzt die Kompetenzen der europäischen Union gegenüber jenen der Nationalstaaten ab. Die EU wird nur noch in wenigen Bereichen exklusive Zuständigkeiten haben. Zum Beispiel in der Währungspolitik. Mal ehrlich: Wir sind doch im Euro-Raum, den wir gleichberechtigt mitgestalten, besser aufgehoben, als in der belgisch-luxemburgischen Währungsgemeinschaft, in der wir zu nichts befragt wurden, wo wir kaum etwas zu bestellen hatten und wo unsere Kaufkraft unter den Irrungen und Wirrungen der belgischen Finanz- und Wirtschaftspolitik zu leiden hatte! Der Verfassungsvertrag schreibt das Subsidiaritätsprinzip zwingend fest: Die Nationalstaaten sind dort zuständig, wo sie effizienter und zielorientierter handeln können als die EU. Die Regulierungswut der Kommission wird durch die Verfassung gestutzt, und das ist auch gut so.

Fonction publique: Viele befürchten, dass mit der Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrages die derzeitige soziale Marktwirtschaft, die uns Fortschritt und sozialen Frieden sichert, durch hemmungslosen Kapitalismus abgelöst wird und dem Sozialabbau Tür und Tor geöffnet werden. Zwar gelang es Ihnen noch, die unsägliche Bolkestein-Direktive abzublocken, aber was wird die Zukunft uns bringen? Sind erwähnte Ängste nicht doch berechtigt?

Jean-Claude Juncker: Die Vorstellung, ich hätte für unser Land einen Vertrag unterschrieben, der dem wilden Kapitalismus Tür und Tor öffnet und uns zu flächendeckendem Sozialabbau zwingen würde, ist gelinde gesagt abenteuerlich.

Die EU ist nicht einfach Wirtschaftsunion, die nur den Gesetzen des Marktes folgt. Sie muss auch Sozialunion sein, eine Sozialunion, die die Negativauswüchse des Marktes im Sinne der sozialen Marktwirtschaft – die als Begriff und Konzept zum ersten Mal in einem europäischen Vertrag auftaucht – vermeidet und Sozialfinalität der Wirtschaft betont. Dies gilt auch für öffentliche Dienstleistungen, die nicht prinzipiell privatisiert werden. Sie brauchen es überhaupt nicht, wenn sie nicht kommerziell ausgerichtet sind. Sie brauchen es auch nicht in allen Fällen, wo sie in Konkurrenz zu den Privaten stehen. Der Staat kann nicht alles besser als die Privatwirtschaft. Aber er kann vieles genauso gut und er macht es oft gerechter, weil weniger profitorientiert. Der Verfassungsvertrag schützt die öffentlichen Dienstleistungen mehr als jeder seiner Vorgänger, es ist der erste Vertrag, der sie überhaupt anerkennt und sie nicht systematisch den Gesetzen des Marktgeschehens unterwirft.

Fonction publique: Woran wird sich denn Luxemburgs Souveränität nach dem Inkrafttreten der EU-Verfassung noch festmachen lassen? Was bleibt übrig von unserer nationalen Identität?

Jean-Claude Juncker: Der Verfassungsvertrag schreibt der europäischen Union vor, nationale Souveränität und nationale Identität zu respektieren. Das ist kein leeres Wort. Die nationalen Parlamente ein Novum in der EU-Geschichte – können Richtlinienvorschläge der Kommission abweisen, falls sie gegen das Subsidiaritätsprinzip verstoßen, und die Kommission zur Überprüfung ihrer Vorschläge zwingen.

Unsere nationalen Institutionen werden vom Vertrag nicht berührt. Wir bleiben allein zuständig – und das ist wichtig – für Bildung und Bildungsprogramme, für Kultur und Kulturpolitik. Wir bleiben auch allein zuständig für unseren öffentlichen Dienst. In diesem Zusammenhang: Die Leistung der Luxemburger Beamten während unserer EU-Präsidentschaft wurde mir gegenüber tausendfach gerühmt. Ich habe Grund, auf unsere Beamten stolz zu sein, die im Schnitt eine bessere Arbeit verrichtet haben als ihre Kollegen aus größeren Ländern.

Wichtig ist auch, dass der Verfassungsvertrag nur einstimmig – also mit unserer ausdrücklichen Billigung – abgeändert werden kann. Prominente französische Neinsager haben verlangt, die Verfassung müsse durch Mehrheitsbeschluss – also möglicherweise gegen unseren Willen – abgeändert werden können. Ich bin nachdrücklich der Meinung, dass weitere Souveränitätsübertragungen nur von Volk oder Parlament genehmigt werden können. Auf keinen Fall dürfen sie uns durch den Mehrheitswillen der andern aufgezwungen werden.

Fonction publique: Haben Sie Verständnis für die Ängste, die auch in unserem Land nach der EU-Erweiterung entstanden sind? Wie stehen Sie zu einem möglichen Türkei-Beitritt?

Jean-Claude Juncker: Die Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa war alternativlos. Wäre die EU nicht nach Osten gegangen und hätte den Menschen dort die Perspektive auf Wohlstand eröffnet, dann wären die Ost- und Mitteleuropäer zu uns und zu unserem Wohlstand gekommen, ohne Regeln, ohne Bedingungen, ohne ordnende Kriterien.

Unsere Wirtschaft – das heißt auch die Menschen hier im Land – profitiert in hohem Masse von der Erweiterung: Mit den acht neuen mittel- und osteuropäischen EU-Ländern betreiben wir heute schon mehr Handel als mit den USA! Die Türkei steht nicht vor der Tür. Mit ihr werden wir ergebnisoffen verhandeln, dass heißt andere Optionen als der volle Beitritt sind möglich. Sie sind sogar wahrscheinlicher als der Beitritt, der – falls er kommen sollte – nicht vor 15 oder 20 Jahren erfolgen würde.

Fonction publique: Im Zusammenhang mit der EU-Verfassung hört man immer wieder, dass ein starkes, selbstbewusstes Europa geschaffen werden müsse, gleichsam als Gegenpol zu den USA. Ist primitiver Anti-Amerikanismus ein Argument für die EU-Verfassung?

Jean-Claude Juncker: Wir streben nicht die Vereinigten Staaten von Europa an, sondern die politische Union Europas, eine politische Union, die Nationalidentitäten wahrt und Gemeinsames so organisiert, dass wir alle dabei gewinnen. Die EU wird sich in Komplementarität, nicht in stupider Feindschaft zu den USA entwickeln. Wir sind nicht die Vasallen der Amerikaner, die Amerikaner sind aber unsere Verbündeten. Wir stehen nicht unter ihrem Kommando, wir müssen aber unsere kontinentalen Aufgaben selbst erledigen. Dass Europa Mord, Gewalt, Vergewaltigung und Folter auf unserem Kontinent – wie auf dem Balkan geschehen – tatenlos zuschauen muss, das darf sich nicht noch einmal wiederholen!

Fonction publique: Herr Staatsminister, wir danken Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch.