„Die Europäische Union ist keine Fata Morgana“

Ein Gespräch mit dem früheren Kommissionspräsidenten und Staatsminister Jacques Santer
Ehrenstaatsminister Jacques Santer stand von 1984 bis 1995 an der Spitze der Regierung, bis er zum Präsidenten der EU-Kommission avancierte. Santer kennt die EU mit ihren Stärken und Schwächen. Die Luxemburger Politik hat er über Jahrzehnte mitgeprägt und weiß, ohne die europäische Integration hätte das Großherzogtum sich nicht so erfolgreich entwickeln können.

D’Wort: Hat Europa als Friedensprojekt heute noch die gleiche Anziehungskraft?

Jacques Santer: Ich glaube schon. Luxemburg wurde doch als Pufferstaat geboren. Wir hatten ein vitales Interesse an der deutsch-französischen Aussöhnung. Europa ist gegen Kriege nicht immun, das haben zuletzt die Auseinandersetzungen auf dem Balkan gezeigt. Den dauerhaften Frieden, den wir durch die europäische Integration geschaffen haben, dürfen wir nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Das Zusammenleben ist vielleicht nicht immer einfach. Wir müssen den Umgang pflegen und bereit sein für Kompromisse.

D’Wort: Kann ein kleines Land wie unseres überhaupt ohne eine wirtschaftliche Einbindung bestehen?

Jacques Santer: Das kann ich mir schwer vorstellen. Luxemburg hat immer versucht, sich in eine Wirtschaftsgemeinschaft einzubinden. Im Zollverein des deutschen Bundes vor dem Ersten Weltkrieg, in der Wirtschaftsunion mit Belgien und später in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.

Wir profitieren von einem größeren Markt. Das ist unbestreitbar. Unternehmen kommen ja nicht ins Großherzogtum, weil wir schöne Augen haben. Sondern sie haben von hier aus die Möglichkeit, ihre Produkte auf dem europäischen Binnenmarkt abzusetzen. Ein kleiner Raum wie Luxemburg, mit einer begrenzten Einwohnerzahl ist alleine nicht interessant. Wir waren und sind auf den Binnenmarkt angewiesen.

D’Wort: Die Zugehörigkeit zur Union hat unseren wirtschaftlichen Aufschwung ermöglicht.

Jacques Santer: Sicher. Und man darf auch nicht vergessen, dass die Restrukturierung nach der Krise in der Stahlindustrie ohne die Unterstützung durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft kaum zu bewältigen gewesen wäre.

Die Diversifizierung unserer Wirtschaft wurde durch die Liberalisierungspolitik beflügelt. Der freie Wettbewerb im Medienbereich ermöglichte uns doch erst, unser Satellitenprogramm zu starten.

Wir mussten damals mit dem Gang zum Europäischen Gerichtshof drohen, um uns gegen das Eutelsat-Monopol durchzusetzen.

Wir leben doch im Großherzogtum von Dienstleistungen. Denken Sie nur an den Finanzplatz. Wir haben ein Interesse an einer überlegten Liberalisierung.

D’Wort: Viele Institutionen der EU haben ihren Sitz in unserer Hauptstadt. Auch ein Vorteil.

Jacques Santer: Gewiss. Die vielen Beamten bringen ja auch der heimischen Wirtschaft Kundschaft.

Was wir zudem selten zur Kenntnis nehmen, sind die Rückflüsse von Geldern aus dem EU-Haushalt nach Luxemburg. Und dies nicht alleine wegen der Institutionen. Auch mit Finanzspritzen aus dem Regionalfonds, dem Sozialfonds sowie den Interreg- und Leader-Programmen werden im Großherzogtum Projekte verwirklicht. Nur weisen wir selten darauf hin. Wir müssten den Bürgern deutlicher zeigen, dass sie nicht in ein Fass ohne Boden einzahlen, sondern die europäische Politik ihren Lebensstandard unmittelbar verbessert. Die Europäische Union ist keine Fata Morgana.

D’Wort: Manche befürchten, unser Sozialmodell habe im neuen Europa keine Überlebenschance.

Jacques Santer: Die Angst vor dem Neuen und der daraus folgende konservative Reflex sind verständlich. Das war bei weiteren Integrationsschritten und Erweiterungen immer der Fall.

Die Soziale Marktwirtschaft wird imVerfassungsvertrag ganz klar als Basis unseres Gesellschaftsmodells verankert. In allen Politikbereichen muss auf die Sozialverträglichkeit geachtet werden. Wir gehen einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Planwirtschaft. Wir mussten eine politische Antwort auf die Umwälzungen im Osten geben. Die Wucht und Schnelligkeit der Veränderungen hat alle überrascht. Auch die Politik.

Interview: Laurent Zeimet

Quelle: d’Wort vom 26. Mai 2005